Nozick, Robert
Von Sven Gerst
Obwohl Robert Nozick (1938-2002) ohne Frage zu den bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt, ist es schwer sein Wirken lediglich auf dieses Teilgebiet der Philosophie zu beschränken. Nozick war einer der kreativsten und vielseitigsten Denker seiner Zeit und leistete nahezu in jedem Bereich der Philosophie—von Metaphysik und Erkenntnistheorie über Philosophie des Geistes bis hin zu Liebe und Tod—wichtige Beiträge zur philosophischen Debatte. Seine philosophische Brillanz und intellektuelle Neugier mündeten in einem einzigartigen Stil, welcher am Besten in Nozicks eigenen Worten beschrieben werden kann
Nach einer Auffassung soll man philosophische Bücher so schreiben, dass man alle Einzelheiten und Probleme der vertretenen Auffassung durchdenkt und ausfeilt und der Welt ein abgeschlossenes und elegantes Ganzes übergibt. Das ist nicht meine Auffassung. […] Es gibt einen Platz für Darlegungen, die nicht das letzte Wort sind. In der Tat verwirrt mich die übliche philosophische Darstellung. Philosophische Arbeiten klingen so, als hielten sie ihre Verfasser für das absolut letzte Wort zur Sache. (S. 17f.)
Diese von philosophischen Rätseln, interessanten (und oftmals obskuren) Gedankenexperimenten und teilweise unbeantworteten Einwänden geprägte Herangehensweise, spiegelt sich in Nozicks politischem Hauptwerk Anarchie, Staat, Utopia (ASU) wider, welches gemeinsam mit John Rawls‘ Eine Theorie der Gerechtigkeit ein Aufleben der analytischen Tradition in der politischen Philosophie einläutete. Im Gegensatz zu Rawls verließ Nozick jedoch das Feld der politischen Theorie nach der Publikation von ASU—ohne seinen namhaften Kritikern zu antworten. Dies führte unter anderem zu dem Vorwurf, dass Nozick sich intellektuell vom Libertarismus abgewandt habe. Nozick stellte jedoch in einem Interview kurz vor seinem Tode im Jahr 2002 klar, dass er sich weiterhin den Ideen des Klassischen Liberalismus verbunden fühle.
In seinem politischen Hauptwerk Anarchie, Staat, Utopia skizziert Nozick die Rechtfertigung eines Minimalstaats, eine naturrechtliche Gerechtigkeitstheorie sowie eine Utopie liberalen Pluralismuses. Um Nozicks Projekt besser verstehen zu können, wird dieser Beitrag eine kurze Übersicht über die Kernaspekte seiner politischen Philosophie geben.
Rechte als moralische Nebenbedingungen
Nozick beginnt Anarchie, Staat, Utopia mit:
Die Menschen haben Rechte, und einiges darf ihnen kein Mensch und keine Gruppe antun (ohne ihre Rechte zu verletzen). (S. 13)
Die zeigt die Zentralität von Rechten in Nozicks Philosophie. Für Nozick sind diese Rechte moralische Rechte, die nicht vom Wohlwollen eines Souveräns, den jeweiligen politischen Institutionen oder einer Variation des Gesellschaftsvertrags abhängen. Vielmehr sind Rechte als Naturrechte anzusehen, die einem Individuum qua Individuum zustehen und die ihr von keinem anderen Menschen entzogen werden können. Damit steht Nozick in der intellektuellen Tradition von Denkern wie Immanuel Kant und vor allem John Locke.
Diese Rechte—allen voran das Recht auf Selbsteigentum (d.h. das Individuum als ausschließlicher und rechtmäßiger Eigentümer des eigenen Körpers)—sieht Nozick als Nebenbedingungen für menschliches Handeln. Sie sind damit Einschränkungen für den Umgang mit anderen Mitmenschen. In anderen Worten, Rechte grenzen ab, was wir als Gesellschaft tun und nicht tun dürfen. Sie verhindern, dass wir die Lebensziele, Interessen und letztlich die Würde des Einzelnen für kollektive Planungen überschreiben—und bieten damit eine explizite Kritik an einer utilitaristischen Moraltheorie. Dieses Verständnis von Naturrechten hat überdies weitreichende Konsequenzen für Nozicks Gesellschaftstheorie.
Der Minimalstaat
Die Aufgabe politischer Philosophie besteht für Nozick in der Rechtfertigung des Staates:
Wenn es den Staat nicht gäbe, müsste man ihn dann erfinden? (S. 23)
Dies ist bemerkenswert. Nozick ist damit einer der wenigen Denker, der die Herausforderung des individualistischen Anarchisten nicht nur ernst nimmt, sondern auch annimmt. Der Anarchist wirft dem Staat vor, die Rechte des Einzelnen ohne dessen Legitimation zu verletzen. Der Staat handele somit unmoralisch. Die Argumentation des Anarchisten stützt sich hierbei—wie Nozicks Position selbst—auf ein starkes Verständnis von Naturrechten. Und somit gilt es für Nozick nachzuweisen, dass sich ein Staat auch ohne Verletzung solcher Rechte rechtfertigen kann.
In seiner Rechtfertigung für den Minimalstaat, der auf die Sicherung von individuellen Grundrechten (d.h. dem Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum) beschränkt ist, skizziert Nozick einen Prozess der von naturrechtlicher Vertragsfreiheit im Naturzustand zu einem legitimierten Staat führen kann—ohne dabei Rechtsverletzungen zu begehen. Der Staat erwächst hierbei durch die Evolution von privaten Schutzvereinigungen, die sich über spontane und freiwillige Schritte zu einem territorialen Gewaltmonopol entwickeln. Diese Konzeption des Minimalstaates gilt bis heute als einflussreichste Theorie des Minarchismus..
Anspruchstheorie als Gerechtigkeitstheorie
Nach der Rechtfertigung des Minimalstaates stellt sich für Nozick gleich die nächste Herausforderung: Er muss zeigen, dass nur der Minimalstaat erfolgreich verteidigt werden kann—und somit, dass es keine moralische Basis für expansivere Staatsformen, welche zum Beispiel einen Wohlfahrtstaat beinhalten, geben kann. Dieser Aspekt ist insbesondere dahingehend von Bedeutung, da Nozicks Harvard-Kollege John Rawls wenige Jahre zuvor seine einflussreiche Gerechtigkeitstheorie in Eine Theorie der Gerechtigkeit vorgelegt hatte, welche für weitreichende Umverteilungsmaßnahmen argumentiert.
Im Gegensatz zu anderen Gerechtigkeitstheorie steht bei Nozick nicht die konkrete Verteilung von Ressourcen oder Gütern im Vordergrund. Solchen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit wirft Nozick vor, dass sie „sonst einverständliche kapitalistische Akte zwischen erwachsenen Menschen verbieten“ (S. 218) müssten. Nozicks Aufmerksamkeit gilt vielmehr dem historischen Prozess der zu einer bestimmten Verteilung an Besitztümern führt. Ist ein Anspruch durch die rechtmäßige Aneignung und/oder den einvernehmlichen Austausch erfolgt, so ist er rechtmäßig bzw. gerecht. Und dies gilt selbst, wenn aus diesem Prozess signifikante Verteilungsungleichheiten entstehen. Die Rolle des Staates ist darauf beschränkt die Rechtmäßigkeit und Freiwilligkeit von Aneignung und Austausch von Besitztümern sicherzustellen—jedoch nicht um umverteilend einzugreifen.
Hier ist es jedoch wichtig anzumerken, dass Nozicks Anspruchstheorie erst dann in Kraft tritt, sobald alle historisch unrechten Transaktionen (die zum Beispiel durch Raub oder Sklaverei verursacht wurden) korrigiert wurden.
Liberaler Pluralismus als Utopia
Während Nozick hauptsächlich für die Verteidigung des Minimalstaates und seine Anspruchstheorie bekannt wurde, findet mittlerweile auch der dritte Teil von Anarchie, Staat, Utopia immer mehr Beachtungt. Da es dem Ideal des Minimalstaates laut Nozick an Glanz und Motivationskraft fehlt, widmet er sich im letzten Teil seines Buches einem inspirierenderem Projekt: der liberalen Utopie—einer Idee, der im Übrigen auch F.A. Hayek sehr verbunden war. Nozicks Motivation lässt sich folgendermaßen beschreiben:
Wittgenstein, Elizabeth Taylor, Bertrand Russell, Thomas Merton, Jogi Berra, Allen Ginsburg, Harry Wolfson, Thoreau, Casey Stengel, der Lubawitcher Rabbi, Picasso, Moses, Einstein, Hugh Hefner, Sokrates, Henry Ford, Lenny Bruce, Baba Ram Dass, Gandhi, Sir Edmund Hillary, Raymond Lubitz, Buddha, Frank Sinatra, Kolumbus, Freud, Norman Mailer, Ayn Rand, Baron Rothschild, Ted Williams, Thomas Edison, H.L. Mencken, Thomas Jefferson, Ralph Ellison, Bobby Fischer, Emma Goldman, Peter Kropotkin, du, deine Eltern. Gibt es wirklich eine Lebensform, die für alle diese Menschen die beste wäre? (S. 406f.)
Ein liberales Utopia beschreibt keinen laissez-faire Kapitalismus für alle. Ganz im Gegenteil. Nozick lehnt jegliche Bestrebungen zur zwangsweisen Auferlegung einer vermeintlich idealen Gesellschaftsvorstellung vehement ab. Vielmehr sieht er es als unmöglich an, eine solche Gemeinschaft, die allen Lebensformen gerecht wird, philosophisch zu bestimmen. Dafür sind unsere Charaktere, Präferenzen, Lebensplanungen und Bewertungen des Guten viel zu unterschiedlich. Nozicks liberale Utopie ermöglicht deshalb den einzelnen Individuen sich selbst zu entfalten und ihre eigenen Lebensvorstellung zu realisieren. Der von Nozick skizzierte Minimalstaat bietet hierbei lediglich die Rahmenbedingungen für das gemeinsame Zusammenleben.