Acton, John
Von Clemens Schneider
Der Historiker John Emerich Edward Dalberg-Acton hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Geschichte der Freiheit nachzuverfolgen. Sein leider nur in Artikeln und Notizen vorliegendes Lebenswerk bietet einen ungewöhnlichen und aufschlussreichen Blick auf die Ideen, Institutionen und Individuen, die über die Jahrhunderte zum Entstehen einer freiheitlichen Gesellschaft beigetragen haben. Friedrich August von Hayek bezeichnete seine Schriften als „die vollständigste Wiedergabe jenes wahren Liberalismus, der … mir nach wie vor der vortrefflichste Wertekatalog zu sein scheint, den die westliche Zivilisation hervorgebracht hat.“
Biographie
Als Kind einer deutschen Mutter und eines englischstämmigen Vaters 1834 in Neapel geboren und in Frankreich, Großbritannien und München aufgewachsen steht Lord Acton prototypisch für den im 19. Jahrhundert rapide zunehmenden Kosmopolitismus. Sein Großvater väterlicherseits war 26 Jahre lang Ministerpräsident des Königreichs Neapel und sein Großonkel mütterlicherseits, Karl Theodor von Dalberg, war der letzte Erzkanzler des Deutschen Reiches. Sein Interesse an Politik war ihm somit in die Wiege gelegt. Die Leidenschaft für historische Fragen entwickelte er ab 1850 unter Führung seines väterlichen Lehrers Ignaz von Döllinger, der als der wichtigste katholische Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts gelten kann.
Zwischen 1859 und 1865 war er kurzzeitig, aber ohne Erfolg und Begeisterung, Abgeordneter im britischen Parlament. Danach widmete er sich für mehrere Jahre der Tätigkeit als Herausgeber mehrerer Zeitschriften, wobei schon damals eine sehr typischen Eigenschaften stark ausgeprägt war: Zeitlebens suchte er die Auseinandersetzung mit Personen und Institutionen, die mit einem Autoritätsanspruch auftreten. Einen Höhepunkt fand seine Freude an der Kritik während des Ersten Vatikanischen Konzils 1870/71, wo der gläubige Katholik in Rom eine zentrale Figur wurde bei der Organisation des innerkirchlichen Widerstands gegen das sogenannte „Unfehlbarkeits-Dogma“.
In den folgenden Jahrzehnten pflegte Acton ein Leben als Privatgelehrter und forschte für sein großes Projekt, eine Geschichte der Freiheit zu verfassen. Eine Reihe persönlicher Krisen, finanzielle Probleme sowie seine Detailverliebtheit und Freude am unerforschten Territorium führten dazu, dass es ihm nie gelang, auch nur ein Buch zu schreiben. Deshalb beschränkt sich sein Lebenswerk auf eine Vielzahl von Aufsätzen und umfangreichen Korrespondenzen. Er verzettelte sich buchstäblich in hunderten von Kästen mit tausenden von Notizen. Dabei wies er allerdings einen ungewöhnlichen Spürsinn für die abseitigen Gestalten des Liberalismus auf und erkundete vor allem die Bedeutung von Denkern, denen die Ideengeschichte des Liberalismus oft nicht gerecht worden ist, wie etwa Vincent von Lerins, Fausto Sozzini, Francois Fenelon und Alexandre Vinet.
Im Laufe der 1880er Jahre hatte sich eine immer stärkere Freundschaft zwischen Acton und dem vielfachen britischen Premierminister William Ewart Gladstone herausgebildet. Der sorgte dafür, dass sich Actons finanzielle Situation wieder erholte, und konnte vor allem erreichen, dass der Katholik, dem einst das Studium an einer englischen Universität verwehrt worden war, im Jahr 1895 den höchst renommierten Posten des Regius Professor of Modern History an der Universität Cambridge übertragen bekam. Mit 68 Jahren starb er in seiner zweiten Heimat Tegernsee.
Während Acton zu Lebzeiten sehr bekannt und hoch geschätzt war, geriet er bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Bedeutenden Einfluss hatte er danach vor allem in Historikerkreisen auf der britischen Insel und durch die außerordentlich hohe Wertschätzung, die ihm Friedrich August von Hayek entgegenbrachte. In der allgemeinen Wahrnehmung hat vor allem ein Zitat von ihm überlebt: „Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely.“
Acton als Theoretiker des Liberalismus
Lord Acton hat niemals eine umfassende Definition des Liberalismus vorgelegt, gleichwohl aber wichtige Pflöcke eingeschlagen im Bezug auf zentrale Punkte, die Teil einer freiheitlichen Agenda sein müssen. Außerdem lohnt die Lektüre seiner Texte sehr für Freunde der Ideengeschichte, weil Acton gewissermaßen ein Spürhund für unbekannte und vergessene, aber sehr spannende Denker der Vergangenheit war.
Eines seiner zentralen Themen ist die Macht. In ihr sieht er den wesentlichen Feind der Freiheit, ihren Gegenspieler über die Jahrtausende menschlicher Zivilisation hinweg. Die Freiheit von Gesellschaften und Individuen musste graduell in Opposition zur Macht erkämpft werden, die von ihrem Wesen aus versucht, sich auszubreiten. Dabei ist Macht ein Phänomen, das immer wieder auftaucht und die Tendenz hat, korrumpierend zu wirken. Korrumpierend in dem Sinne, dass sie den Menschen dazu bringt, sich von ethischen Grundsätzen zu entfernen, als deren höchsten Acton den Respekt vor der Freiheit der Person identifiziert.
Es stehen vor allem zwei Argumentationsmuster bereit, um die Ausweitung von Macht zu rechtfertigen: Das Effizienz-Argument, das darauf verweist, dass Problemlösungen schneller und wirksamer erreicht werden können, wenn eine dafür zuständige Person oder Institution mehr Spielraum hat. Und die Legitimierung mit transzendentalen Argumenten, wie wir sie etwa im Gottesgnadentum finden oder in der Begründung mit höheren Zielen wie beispielsweise der Weltrevolution. Darüber hinaus kann die Macht sich häufig darauf verlassen, dass sich Menschen aus Bequemlichkeit oder Angst davon überzeugen lassen, anderen Macht zuzugestehen.
In seinem Versuch, die Geschichte der Freiheit darzulegen, identifiziert Acton vielerlei Phänomene und Akteure, die zu einer Begrenzung von Macht beigetragen haben, von der Macht-Kritik der Propheten des Alten Testaments über die Trennung von Religion und Staat im Christentum, die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst, die Toleranzforderungen der christlichen Freikirchen bis zur amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung.
Acton sieht zwei wesentliche Instrumente, um die Gefahr der sich ausweitenden Macht einzudämmen: Das Konzept eines göttlichen oder Natur-Gesetzes, das dem Menschen durch sein Person-Sein bestimmte unveräußerliche Rechte zugesteht. Und die Bildung von Institutionen wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung und – mit Abstrichen – Demokratie sowie das Entstehen von Verfassungen.
Acton begreift die Geschichte der Freiheit als eine Geschichte des Fortschritts, trotz aller Rückschritte, die sich zwischendrin immer wieder beobachten lassen. Mit dieser positiven Sicht auf die Geschichte ist er nicht nur nah an dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sondern steht insbesondere in der angelsächsischen Tradition der „Whig History“. Diese insbesondere vom Historiker Thomas Babington Macaulay (1800-1859) entwickelte Sichtweise interpretiert Geschichte als eine Dynamik, die auf Verbesserung der Lebensverhältnisse ausgerichtet ist. Aus dieser Haltung heraus zeigte Acton zeitlebens mehr Verständnis und Sympathie für die damals aufstrebenden sozialistischen Bewegungen als für die konservativen Kreise. Während erstere aus seiner Sicht Denkfehler begingen, entschieden sich letztere dazu, sich dem Grundprinzip der Geschichte entgegen zu stemmen – einem Grundprinzip, das für Acton auch das Wesen des Christentums ausmachte.
Um Freiheit zu bewahren und voranzubringen, ist für Acton ein hohes Maß an ethischer Integrität notwendig. Die Idee des unabhängigen Gewissens und das Konzept von „morality“ haben ihn ein Leben lang intensiv beschäftigt. In dieser Frage überwarf er sich auch beinahe mit seinem Lehrer Ignaz von Döllinger, dem er vorwarf, in der Beurteilung von Verbrechen aus der Vergangenheit zu viel Nachsicht zu üben. Für Acton stand fest, dass gewisse ethische Maßstäbe überzeitliche Gültigkeit besitzen.