Aufklärung

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Von Maximilian Priebe

  1. Die Aufklärung – eine Epoche? Ein Projekt?

Die Aufklärung ist eine wichtige Epoche in der europäischen und amerikanischen Geistesgeschichte. Sie wird meist ins 18. Jahrhundert datiert und mit zentralen Ereignissen und Schlüsselthemen der westlichen Geschichte in Verbindung gebracht: mit den Revolutionen in Frankreich und Amerika, mit dem Siegeszug neuzeitlicher Naturwissenschaft, dem Aufkommen von zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit, Arbeitsteilung, industrieller Produktion und freier Marktwirtschaft, dem Entstehen des modernen Verfassungsstaats und der Beschränkung aristokratischer Privilegien, sowie nicht zuletzt mit der Überwindung religiösen Dogmatismus und der zunehmenden Säkularisierung des öffentlichen Raums. Identifiziert man die Epoche der Aufklärung vollständig mit diesen komplexen und voneinander durchaus unabhängig verlaufenden Entwicklungen, so ist die präzise Datierung in das 18. Jahrhundert nicht unproblematisch. Manches, das in der Zeit vor der französischen Revolution seinen Anfang nahm, beispielsweise das Entstehen von industrieller Produktion und Massengesellschaft, entfaltete sich erst im 19. Jahrhundert vollständig – und wird somit nicht klassischerweise zur Aufklärung gerechnet. Andere Phänomene, die wir gewöhnlich unmittelbar mit der Aufklärung assoziieren – etwa einen besonderen Fokus auf das Individuum sowie neue Standards von Wissenschaft und Rationalität – wurzeln strenggenommen nicht im 18. Jahrhundert, sondern können auf einen tieferliegenden Charakter neuzeitlichen Denkens zurückgeführt werden, dessen Ursprünge in der Zeit der Reformation, der Kolonisierung Amerikas und der beginnenden Naturwissenschaft liegen – das heißt im 16. und insbesondere im 17. Jahrhundert. Um einen besseren Überblick über die Besonderheit und Bedeutung der Aufklärung zu geben, werden im Folgenden die wichtigsten Grundlagen und Entwicklungen dieser Epoche historisch und auch geographisch skizziert.

Im gewöhnlichen Sprachgebraucht bezeichnet das Wort „Aufklärung“ meist allerdings nicht nur eine Geschichtsepoche, sondern auch ein besonderes Versprechen oder ein universales philosophisches Projekt: den Anspruch auf Fortschritt und Wohlstand, die Idee von der Entschleierung der Wahrheit, die Hoffnung auf das Loslösen von alten Irrtümern. Nicht selten wird behauptet, dass einer bestimmten Region oder Kultur „die Aufklärung noch bevorstünde“, dass wir uns in einem Zeitalter der „Gegenaufklärung“ befänden oder wir uns auf „aufklärerische“ Ideale besinnen müssten. In einer ähnlichen Weise, jedoch inhaltlich entgegengesetzt, wurde das „Projekt Aufklärung“ auch seit seiner historischen Artikulation im 18. Jahrhundert philosophisch kritisiert: es „entzaubere“ die Welt, schaffe neue Ungerechtigkeiten oder halte schlichtweg nicht, was es verspricht. Anschließend an den historischen Überblick wird deshalb auch die Aufklärungskritik in den Blick genommen, die insbesondere im 20. Jahrhundert die Rezeption der Aufklärung beeinflusst hat. Ein besondere Fokus liegt auf der Frage, worin „genuin aufklärerisches“ Denken besteht und inwiefern das „Projekt Aufklärung“ heute philosophisch verteidigt werden kann.

  1. (Begriffs-)Geschichte

 Die wichtigsten „Aufklärer“ hätten sich wahrscheinlich selbst nicht so bezeichnet. Die französischen und englischen Begriffe „lumière“ oder „enlightening“ sind zwar während der gesamten neuzeitlichen Periode als Entsprechungen des Wortes „Aufklärung“ präsent, bezeichnen meist allerdings keine spezifische Epoche oder Geisteshaltung, sondern lediglich Attribute des Wissens allgemein – in etwa die „Erhellung“ oder Richtigstellung eines Sachverhalts oder spezifische mathematische oder empirische Erkenntnisse. Zum ersten Mal als Selbstbetrachtung der Epoche wird die Bezeichnung „Siècles des Lumières“ – „Jahrhundert der Lichter“ – 1732 von Jean-Baptiste Dubos verwendet. Es dauert bis zum Erscheinen eines der Hauptwerke der Epoche – der Enzyklopädie der Wissenschaften von Denis Diderot und Jean d’Alembert im Jahre 1751 – dass das Wort zum ersten Mal als explizite Selbstbeschreibung einer intellektuellen Strömung auftaucht: als Epoche des Lichts, die Jahrhunderte der geistigen Dunkelheit ablöst. In einem noch späteren Hauptwerk der Epoche, dem Neuen Organon des Schweizer Mathematikers Johann Heinrich Lambert (1764), taucht das Wort „Aufklärung“ sogar kein einziges Mal als Epochenbezeichnung auf. Als die preußische Akademie der Wissenschaften 20 Jahre später, 1784, die Preisfrage „Was ist Aufklärung?“ ausschreibt, die Immanuel Kant prominent mit dem Slogan „dem Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen!“ beantwortet, ist die eigentliche „Aufklärungsarbeit“ quasi bereits beendet. Mit der späten Eigenbezeichnung ist die Epoche bereits in die Phase ihrer eigenen Geschichtsschreibung getreten. Im angelsächsischen Sprachraum dauerte es, wie Gertrude Himmelfarb überzeugend darstellen konnte, sogar bis zum 20. Jahrhundert, dass sich die Bezeichnung „Enlightenment“ für die Epoche vor der französischen Revolution durchsetzen konnte. Wir müssen den Namen demnach als ein Kofferwort sehen, mit dem spätere Philosophen und Historiker höchst unterschiedliche Phänomene zu fassen versuchten und unterschiedliche Wertungen verbanden. Dies trifft bereits auf die oben genannten französischen Hochaufklärer Diderot und D’Alembert zu. Sie benutzen den Begriff „Siècle des Lumières“, um sich selbst und ihre Zeitgenossen gegen eine als „ignorant“ und „hinterwäldlerisch“ empfundene Scholastik abzugrenzen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler wie Phillip Melanchton, Nikolaus Kopernikus oder Francis Bacon bereits zwei Jahrhunderte vor Diderot und D‘Alembert die Scholastik für überwunden erklärt hatten, ohne sich selbst jedoch den Stempel der „Aufklärung“ aufzudrücken. Dass wir diese Denker im 16. und 17. Jahrhundert heute als „Frühaufklärer“ bezeichnen, liegt an der Geschichtsschreibung, mit der spätere Intellektuelle ihre Vorgänger für sich vereinnahmen konnten. Der Erfolg dieser Geschichtsschreibung bedeutet aber auch, dass den Vordenkern, in deren Tradition sich die Denker der Hochaufklärung sahen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Diese Vordenker reichen zurück bis an die Grenzen des Spätmittelalters.

  • Renaissance: Humanismus, Reformation und das Zeitalter der Entdeckungen

Die Zeit um 1500 ist eine eigene Epoche, die sich in vielerlei Hinsicht von der sich an sie anschließenden Frühaufklärung unterscheidet. In sie fallen die Entdeckung des amerikanischen Kontinents, die letzte Blüte der italienischen Renaissance und des Humanismus, sowie die Reformation. In vielerlei Hinsicht sind die Theorieentwürfe dieser Zeit dem lateinischen Mittelalter verbunden, in dem insbesondere die deutschen Reformatoren wie Luther und Melanchton ihre intellektuellen Wurzeln haben. Deren Kerngedanken sind vielen Thesen erstaunlich ähnlich, die sich auch bei den Aufklärern finden lassen. Die Reformatoren kritisieren die Macht und die Selbstgewissheit der kirchlichen Autorität und machen die Heilsgewissheit des Einzelnen vom individuellen Gewissen und Glauben abhängig. Sie verbannen die unmittelbare Wirkmacht Gottes aus der Lebenswelt des Individuums und konzeptualisieren das Göttliche als strenges metaphysisches Prinzip, das sämtliche Lebens- und Naturereignisse von weiter Ferne und im Voraus determiniert. Gleichzeitig schreiben die protestantischen Theologen ihrem Gott eine absolute Willensfreiheit zu, mit der er über irdische Gnaden und Strafen quasi willkürlich entscheiden kann. Sie verbinden dies mit der Aufforderung, das Individuum solle mit einem strengen Bezug auf den Bibeltext leben und die eigene Frömmigkeit nicht durch Gebete und gemeinschaftliche Spiritualität, sondern durch die Widmung an den Beruf und weltliche Arbeit ausleben. Damit setzt der Protestantismus entscheidende Konstanten für das entstehende neuzeitliche Weltbild: Er favorisiert die Unterordnung von religiöser Praxis unter weltliche Institutionen und staatliche Gerichtsbarkeit, er konfrontiert das Individuum mit einer unsicheren Heilsgewissheit und platziert es in einen durch deterministische Gesetze geordneten Naturraum, in dem es sich durch rigorosen Purismus behaupten muss.

Dieses neue Weltbild geht einher mit einer Erweiterung und Öffnung des verfügbaren Denkraumes. Die seit dem 14. Jahrhundert andauernde Übersetzung naturwissenschaftlicher und antiker Texte aus dem arabischen Raum führte zu einer Renaissance des Interesses an der Antike und zu einem breiteren Wissen über die griechische Natur- und Staatsphilosophie, insbesondere in Italien. Dies inspirierte zur Weiterentwicklung und Neuanwendung platonischer und hellenistischer Theorien, z.B. des Skeptizismus oder des Atomismus. Verbunden mit dem im christlichen Westen bereits vorhandenen Wissen von Aristoteles, von dem zum Ende des Mittelalters sowohl die Logik als auch die Naturphilosophie nahezu komplett übernommen worden waren, führte dies zu einem neuen Interesse an Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft, für das eine Figur wie Leonardo da Vinci exemplarisch steht.

Zeitgleich zur Renaissance setzte auch der spätmittelalterliche Humanismus neue und eigene Akzente. Die Humanisten sahen sich selbst als Alternative zur Philosophie der Scholastik und plädierten für ein anderes Bildungsideal: anstatt einer technischen, trockenen und primär an Logik und Theologie geschulten universitären Bildung sollte sich der Mensch als Ganzes bilden, d.h. als emotionales, intellektuelles genauso wie körperliches Subjekt. Ein neuer Fokus auf Literatur, Sport, Medizin, Philosophie und Naturwissenschaft ergänzte die klassische akademische Einteilung in Trivium (Logik, Grammatik und Rhetorik) und Quadrivium (Musik, Mathematik, Astronomie und Theologie). Hier wird ein neues Interesse am Menschen als Selbstzweck sichtbar, dessen Würde nicht mehr nur in sich als geschöpftem Ebenbild Gottes liegt, sondern in seinem natürlichen Wesen selbst. Der Optimismus und die Vielseitigkeit von Humanismus- und Renaissancedenken standen mit der Strenge und dem Pessimismus der Reformatoren durchaus in einem Spannungsfeld. Humanistische Denker wie Erasmus von Rotterdam sympathisierten mehr mit der Katholischen Kirche als mit der Reformation, weil sie in der grundsätzlichen Heilsgewissheit, der Tradition und der spirituellen Vielfalt, die der Katholizismus versprach, eine sicherere Grundlage für die erfolgreiche Entfaltung und Bildung des Menschen sahen. Auf diese Weise beeinflusste der Humanismus durchaus die katholische Gegenreformation, die Spätscholastik in Spanien und die Gründung des Jesuitenordens.

Die theoretischen Entwicklungen der Renaissance werden komplimentiert durch historische Ereignisse und neue ökonomische Strukturen. Die Entdeckung Amerikas führt zu einer weiteren Veränderung und Öffnung des europäischen Weltbildes. Die Ausbeutung der mittelamerikanischen Rohstoffe führen zu einer höheren und freieren Zirkulation von Waren und Geldmitteln in Europa sowie zu einer ersten Inflation. Die Eroberung Byzanz‘ durch das Osmanische Reich führen zu einer Umstrukturierung der Handelswege und einem schwindenden Einfluss des Mittelmeerraumes. Das entstehende Fabrikations-, Manufaktur- und Bankenwesen in Europa lösen das mittelalterliche Zunftwesen ab und führen zu einer neuen Wirtschaftsordnung, dem Frühkapitalismus. Dieser führt zu einem Machtgewinn des städtischen, spätmittelalterlichen Bürgertums über die hochmittelalterliche und feudale Aristokratie und zur Entstehung einer neuen urbanen Klasse von Lohnarbeitern. Zuletzt führt die Druckerpresse zu der Entstehung einer ersten Medienöffentlichkeit und beschleunigt die Verbreitung neuer Ideen.

Die ökonomischen und theoretischen Vorbedingungen, die sich zu Beginn der europäischen Neuzeit ergeben, bieten entscheidende Impulse und den strukturellen Hintergrund für die aufklärerischen Debatten. Es ist allerdings wichtig, sie nicht mit der Aufklärung oder der Frühaufklärung gleichzusetzen. Die neuen Gedanken der Zeit um 1500 erfassten eine akademische, politische und ökonomische Elite, entfalteten aber – bis auf die konfessionelle Spaltung – kaum gesamtgesellschaftliche Wirkung. Die Bildungssprache der Zeit – das Lateinische – war dem Mittelalter verbunden und einer Minderheit vorbehalten. Für den Großteil der europäischen Bevölkerung, das heißt für Bauern und Handwerker, blieben sowohl der Lebensstandard als auch die Bedeutung der religiösen Autorität so wie in den vorigen Jahrhunderten. Daran wird sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und der Entstehung der urbanen Massengesellschaft nur wenig ändern. Für die intellektuellen Debatten allerdings stellt die Zeit um 1500 einen Knotenpunkt und eine Epochenwende dar. Sie beeinflusst die Standards, nach denen Philosophen und Wissenschaftler neue Erkenntnisse diskutieren und nach denen sie ihre Methoden auswählen. Und nicht zuletzt beeinflusst die Zeit die Projektionsflächen und die Orientierungspunkte modernen Denkens: neue Utopien und Hoffnungen stellen die Weichen für die Fragen, die spätere Denker für relevant und sinnvoll erachten. Zu ihnen gehören die wissenschaftlichen und philosophischen Schwerpunkte, die das Fundament der Aufklärung sind.

  • Frühaufklärung: wissenschaftliche Revolutionen und neue Ideen.

Wenn die Renaissance die Öffnung des potentiell verfügbaren Denkraumes nach sich zog, so bedeutet das Zeitalter der Frühaufklärung eine Öffnung des Kosmos, eine mögliche Verfügbarmachung der Natur und eine neue Ordnung der Gesellschaft. In gewisser Hinsicht ist die Zeit zwischen 1560 und 1680 so das Fundament der westlichen Gesellschaft. In diesen Jahrzehnten ereignete sich nicht nur die europäische Besiedlung Nordamerikas, sondern auch die Veränderung vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, und damit die Entstehung der modernen Kosmologie und Astronomie. In die gleichen Jahre fallen die Entstehung der Grundlagen der Mechanik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Chemie. In Verbindung mit der konfessionellen Spaltung Europas und den Religionskriegen kristallisierten sich in dieser Zeit auch neue Arten des Regierens und der Staatlichkeit heraus. Zentrale Figuren der neuen wissenschaftlichen Gedanken sind Nikolaus Kopernikus, Galilei Galileo und Johannes Kepler. Sie wendeten erstmals mathematische Modelle auf die Naturbeobachtung an und interpretierten traditionelle Datensätze mit neuen kosmologischen Theorien. Sie ermöglichten es, die Erde nicht mehr im Mittelpunkt des Universums zu sehen und präzisere Prognosen für physikalische Prozesse zu tätigen. Gleichzeitig werden die ersten wissenschaftlichen Texte nicht mehr in Latein, sondern in den jeweiligen Landessprachen verfasst. Auf diese Weise führt die Frühaufklärung nicht nur zu einer Schärfung des Profils verschiedener nationaler Identitäten, sondern auch zu einer für die späte Neuzeit charakteristischen Zersplitterung des literarischen und wissenschaftlichen Diskurses in verschiedene europäische Teilöffentlichkeiten. Es bilden sich einzelne, national relativ unabhängige Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, in die spätere Philosophen und Historiker die einzelnen „Aufklärungen“ eingeteilt haben.

  • Die Französische (Früh-)Aufklärung

Fast alle nachfolgenden Denker sehen in René Descartes den ersten „modernen“ Philosophen und in seinen Meditationen (1641) das erste Werk genuin neuzeitlicher Philosophie. Die spätere französische Hochaufklärung stilisiert ihn zu dem Inbegriff des rationalen, wissenschaftlich vorgehenden Denkers. Tatsächlich kulminieren im Frankreich seiner Zeit viele entscheidende Neuerungen. Zum Ende des Dreißigjährigen Krieges und spätestens nach der Thronbesteigung Ludwig XIV im Jahr 1643 avanciert Frankreich zur militärischen und politischen Vormacht Europas. Paris wird so zum kulturellen und intellektuellen Zentrum des Barockzeitalters und verfügt mit seinen Salons und Kaffeehäusern über die entscheidende Infrastruktur für philosophische Debatten. Gleichzeitig führt der französische Regierungsstil zu einer Zentralisierung und Bürokratisierung des Landes sowie zu einem weiteren Machtverlust der ländlichen, feudalen Aristokratie.

Descartes ist nur eine von vielen intellektuellen Figuren im Frankreich der Zeit, die, dem Vorbild der mathematischen und physikalischen Theorien von Kepler und Galileo folgend, das traditionelle Weltbild auf den Kopf stellen. So entwirft er beispielsweise eine neue materialistische und mechanische Kosmologie, die beansprucht, alle Phänomene der Natur, einschließlich der Tiere und Pflanzen, wie eine Maschine erklären zu können, die nur aus materieller Ausdehnung besteht. Für Descartes gleicht so das gesamte Universum einem unendlich großen und prall gefüllten Uhrwerk, in dem es keinen Raum für Leere oder Unbestimmtheit gibt, und in dem alle Körper sich durch gegenseitige Impulse auf geometrisch präzisen Bahnen bewegen. Descartes‘ Theorie ist der Höhepunkt eines wissenschaftlichen Bruchs mit der vormodernen Vorstellung des Kosmos als geschlossenem Sphärenmodell, in dem göttliche und immaterielle Kräfte selbstverständlich in den Naturprozessen einen Raum haben. Bei ihm ist alles Nicht-Materielle, auch der menschliche Geist, in eine vom Körper getrennte, metaphysisch unbestimmte Sphäre verbannt, die nur der Vernunft zugänglich ist.

Neben der inhaltlichen Neuordnung des Weltbildes arbeiten Descartes und seine Zeitgenossen aber auch an einer neuen Methode der Philosophie selbst. Ihr Ziel ist es, eine sichere Grundlegung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu errichten, die ihrer Meinung nach die alte, auf Textkritik und formale Disputationen gestützte scholastische Philosophie nicht mehr gewährleisten kann. Im Discours sur la méthode, einem der ersten auf Französisch erschienenen wissenschaftlichen Werke der Epoche, artikuliert Descartes den Anspruch, philosophische Erkenntnisse nicht durch überlieferte Autoritäten zu prüfen, sondern mit den Mitteln der Vernunft allein, die mithilfe von semi-formalen Beweisführungen irreführende Gedanken von „klaren und distinkten Ideen“ trennen soll. Hier entsteht die Rhetorik des „natürlichen Lichtes der Vernunft“, mit dessen Hilfe der menschliche Intellekt dunkle und verworrene Sachverhalte ohne fremde Hilfe „erhellen“ kann – eine Metapher, die schließlich in den oben beschriebenen aufklärerischen Jargon eines „Jahrhundert der Lichter“ mündet. Die neue Formalisierung und Verdichtung der Philosophie zeichnen sich durch das Instrument des radikalen Zweifels aus, mit dem alles hinterfragt und auf den Prüfstand gelegt werden soll, was potenziell hinterfragbar ist. Übrigbleiben sollen nach dieser ambitionierten Aufräumaktion nur solche Thesen, deren Wahrheit wir uns absolut gewiss sein können – und von denen alle anderen Überzeugungen deduktiv abgeleitet werden können. Damit sind neue Standards gesetzt, die alle weiteren Debatten fortan bestimmen und auch für neue Spannungsfelder sorgen. Denn während Anhänger von Descartes – wie Antoine Arnauld oder Nicolas Malebranche – den absoluten Erkenntnisanspruch verteidigen, experimentieren Zeitgenossen wie Pierre Gassendi oder Blaise Pascal mit Ideen, die statt von methodischen eher von praktischen Zweifeln geleitet sind und Descartes‘ Letztgewissheiten skeptisch gegenüberstehen. Unter Berufung auf antike Strömungen räumen sie den Sinneswahrnehmungen und der Unberechenbarkeit der Realität einen hohen Stellenwert ein. So bringt Gassendi die Theorien des antiken Skeptizismus und Atomismus gegen Descartes‘ Kosmologie in Stellung und argumentiert für die physikalische Priorität des leeren Raumes über die Materie und für ein auf Zufall beruhendes Atommodell, das nicht nach geometrischer Präzision funktioniert. Und Blaise Pascal erweitert Descartes‘ Vorstellung von Mathematik als Garant von abstrakten Wahrheiten um neue mathematische Modelle wie denen der statistischen Verteilungen, deren Prognosen lediglich auf vergangenen Erscheinungen beruhende Annäherungswerte sind. Zeitgleich zum Siegeszug der neuen mechanischen Gewissheitsansprüche entwickelt sich also bereits ein Gegenentwurf zu ihnen: die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die einen viel bescheideneren, pragmatischen Standard von Erkenntnis vorschlägt.  Für die gesamte Neuzeit ist diese zeitgleiche Entwicklung zweier fundamental unterschiedlichen Vorstellungen von „Gewissheit“ von folgenschwerer Bedeutung: während geometrische und logische Modelle die Hoffnung auf eine fundamentale axiomatische Begründung unserer Hypothesen aufrechterhalten, ist die probabilistische Erklärung der Realität in der Lage, Unbestimmtheit in Theorien mit aufzunehmen und den Wert von Hypothesen von subjektiven Perspektiven und Praxisbezug abhängig zu machen, während sie ihre potentielle Falsifizierung offenlässt. Was in den Wurzeln der französischen Frühaufklärung bereits angelegt ist, entwickelt sich über die Zeit hinweg zu einem der größten Probleme neuzeitlicher Wissenschaft: der Frage, ob durch Induktion von Beobachtungen zu allgemeinen Gesetzen sichere Erkenntnis generiert werden kann.

Ein letztes Charakteristikum der französischen Frühaufklärung, das sich ebenfalls in der Hochaufklärung ab 1700 findet, ist der philosophische Anspruch, alle verschiedenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem umfassenden Gesamtsystem zu vereinen. Figuren wie Bernard de Fontenelle oder Pierre Bayle stellen diesen Universalitätsanspruch in ihren Personen exemplarisch dar: ihre Schriften reichen über Physik und Astronomie hin zur Medizin, Biologie, Musik, Kunst und Literatur. Oft verfassen diese Aufklärer auch selbst belletristische Geschichten oder komponieren als „Dilettanten“ – zur eigenen Unterhaltung und ohne beruflichen Erwerbszweck. In diesem Ideal des umfassend versierten „Universalgelehrten“ lässt sich das humanistische Ideal der ganzheitlichen Bildung erkennen. Der Wille „die ganze Welt in einem Entwurf zu vereinen“ führt auch zur Gründung der ersten wissenschaftlichen Akademien, etwa der Académie Française oder der Royal Society, oder der expliziten Gründung von privaten Kunstsammlungen oder Archiven, aus denen später die ersten öffentlichen Museen hervorgehen. In der gleichen Absicht wurden die ersten umfassenden Lexika herausgegeben, etwa das Grand dictionaire historique (1674) von Louis Moréri oder Bayle’s Dictionnaire historique et critique (1694), das zusätzlich zu den Faktensammlungen das unabhängige Denken des Lesers dadurch anregt, dass es widersprechende Thesen  zu einem Thema wertfrei nebeneinander stellt. Hier wird wieder die cartesisch-aufklärerische Wertschätzung des Zweifels und der unabhängigen Prüfung sichtbar.

  • Die Englische (Früh-)Aufklärung

Ein weiterer zentraler Ort der (Früh-)Aufklärung ist England. Die englischen Frühaufklärer antworten zum einen auf die französischen Debatten über Vernunft, Rationalität und Wissenschaft, setzen andererseits aber auch eigene Akzente, vor allem in den Bereichen von Ethik, Politik und Astronomie. Berühmt ist die Weiterentwicklung des Kopernikanischen Systems durch Isaac Newton, der Impulse von Descartes aufnimmt und zu den drei Grundgesetzen der Bewegung weiterentwickelt. Im Unterschied zu Descartes lässt Newton den Gedanken von einem leeren, homogenen Raum zu, der – zusammen mit dem Gedanken einer stetigen, universalen Zeit – zu einem abstrakten Grundpfeiler seiner Physik wird.

Ein weiterer Kontrast zum französischen Fokus auf die Rolle der Vernunft ist der englische Fokus auf die Priorität der Sinneswahrnehmung. Während Descartes sicheres Wissen von klaren und distinkten Ideen abhängig macht, deren Ursprung im Menschen er als angeboren verortet, legen Denker wie Francis Bacon, Thomas Hobbes und John Locke einen Schwerpunkt auf die Sinnesdaten als Grundlage jeder wissenschaftlichen Untersuchung. John Lockes Antwort auf Descartes, dass wir uns den menschlichen Geist wie ein unbeschriebenes Wachstäfelchen vorstellen müssten, das erst durch Sinneseindrücke gefüllt wird, macht den Konflikt zwischen diesen zwei Strömungen deutlich, die heute unter den Bezeichnungen „Rationalismus“ und „Empirismus“ zusammengefasst werden. Ein Empirist wie Thomas Hobbes war noch radikaler als Locke: er behauptete, dass es außer der Materie gar nichts gäbe, also auch keinen Geist, und dass alles Denken auf physikalische Materie reduziert werden kann. Diese Überzeugung, verbunden mit der Übernahme von Descartes‘ Impulstheorie, führte Hobbes sogar zu einer neuen politischen Theorie. Wenn es keinen freien, selbstbestimmten menschlichen Geist gibt, sondern nur physikalische Impulse, die den Menschen zu verschiedenen Handlungen treiben, dann haben die Menschen auch keine Grundlage, sich gegenseitig als „moralisch“ zu betrachten. Den einzigen Weg aus dem Zustand eines ständigen Konflikts zwischen den instinktgetriebenen Kreaturen, die Menschen Hobbes‘ Meinung nach sind, ist es, einen allmächtigen Staat einzurichten, der die Menschen auseinanderhält, ihnen Gesetze auferlegt, Übertretungen des Gesetzes bestraft und ihnen somit ein friedliches und ruhiges Leben garantiert. Die These, dass ein solcher „Leviathan“ – der absolutistische Staat – nötig ist, um gesellschaftliches Zusammenleben möglich zu machen, eröffnete zwei weitere Debatten, die in der Aufklärung heftig geführt wurde: die Frage nach der Grundlegung der Moral und die Frage nach den Grundrechten des Menschen.

Fragen nach der Naturbeobachtung oder der Ethik führten im England des 17. Jahrhunderts zu oft sehr spezialisierten Theorien. Ein Wissenschaftler wie Robert Boyle, der den Gedanken des Empirismus konsequent weiterführte und auf seine eigene Arbeit anwendete, gilt heute als Gründungsvater der experimentellen Physik und Chemie und war als erster in der Lage, Luftdruck experimentell zu messen. Ein politischer Denker wie der dritte Earl von Shaftesbury hingegen entwarf einen positiven Gegenentwurf zu Hobbes‘ Bild des Menschen und legte den Grundstein zur ethischen Theorie des Sentimentalismus, nach der die Menschen eine angeborene Moralempfindung haben, die dem ästhetischen Geschmack ähnlich ist. Dieser Gedanke entfalte eine große Wirkung sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent, und führte nicht nur zu einem gesteigerten Interesse an Kunsttheorie, sondern auch zu späteren Weiterentwicklungen in der Hochaufklärung, u.a. zur „Theorie der moralischen Gefühle“ von Adam Smith, die dieser zur Grundlage seiner ökonomischen Theorie machte.

  • Regionale und periphere Frühaufklärungen; Holland

Die Debatten der Frühaufklärer in Frankreich und England verbreiteten sich schnell, insbesondere an die Fürstenhöfe und in die gebildeten Öffentlichkeiten der Handelsstädte. So kommt es, dass wichtige Anregungen und Verbreitung der Theorien meist nicht aus traditionellen universitären Kontexten stammten, sondern aus regionalen Zentren in ganz Europa. Descartes korrespondierte unter anderem mit der Prinzessin Elisabeth aus Böhmen und mit der Königin Christina aus Schweden. Entscheidende Impulse sowohl für die französischen Rationalisten als auch für die englischen Empiristen kamen aus den Niederlanden. Durch ihre liberale Gesetzgebung und religiöse Toleranz zogen die Niederlande nicht nur zeitweise sowohl Descartes als auch Locke an, als diese aus politischen Gründen ihre Heimat verließen. Sie brachten aber auch eigene Denker hervor, wie beispielsweise Baruch de Spinoza, der Descartes‘ System entscheidend weiterentwickelte und die philosophischen Gewissheitsansprüche durch euklidische Beweisführung  auf eine neue Stufe hob, sowie Hugo Grotius, der gemeinhin als Gründer des modernen Internationalen Rechts gilt, und mit seiner Ablehnung einer göttlichen Legitimierung staatlicher Rechtssysteme eine wichtige Inspiration für Thomas Hobbes‘ Staatsmodell war.

  • Die Deutsche (Früh-)Aufklärung

Im deutschen Sprachraum reagierte man auf all diese Debatten. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf den Fragen nach der Autorität von Religion und der Begründung des Rechts. So reagierte ein Denker wie Samuel von Pufendorf auf Hobbes‘ Staatsgedanken und auf Grotius‘ Völkerrecht und entwickelte beides zu dem Gedanken eines Vernunftrechts weiter, d.h. zu der Idee, dass sich das Recht durch nichts anderes legitimiert als durch die Anerkennung der Vernunftfähigkeit des Menschen. Dies war brisant, weil es bedeutete, dass die Grundrechte des Menschen rein immanent, also ohne Zuhilfenahme theologischer Argumente gerechtfertigt werden konnten. Sein Schüler Christian Thomasius führte diese Tradition des immanenten Naturrechts weiter und trennte die Rechtstradition von Fragen des Gewissens und Moral, womit er in einer Linie mit der oben genannten protestantische Tradition war, Fragen des menschlichen Heils von Fragen politischer Autorität zu trennen.

Der wohl wichtigste deutsche Frühaufklärer, Gottfried Wilhelm Leibniz, führte die Gedanken der französischen Rationalisten und Spinozas fort und entwickelte ein eigenes philosophisches Modell des menschlichen Geistes und der Wirklichkeit, das versuchte, einen strengen Materialismus im Sinne Hobbes zu vermeiden. Er kann insofern als letzter „Früh“-Aufklärer gelten, als dass er seine Inspiration noch aus der spätmittelalterlichen theologischen und scholastischen Tradition bezog – und so mit einem Bein außerhalb der neuzeitlichen Diskurse stand. Gleichzeitig war ein klassisch „aufgeklärter“ Universalgelehrter, der die Rolle und Eigenständigkeit der menschlichen Vernunft betonte. Sein Schüler Wolff popularisierte die Leibniz‘schen Lehren – und damit die hauptsächlichen Debatten der Frühaufklärer – an den deutschen Universitäten und bereitete damit den Raum für das Aufflammen der eigentlichen Aufklärung als eigenständige Bewegung im deutschen Sprachraum.

  • Hochaufklärung: politische Revolutionen und neue Ideale.

Wenn die Frühaufklärung sich durch das beharrliche Weiterdenken und Vertiefen neuer Begriffssysteme auszeichnete und somit den fundamentalen Bezugsrahmen bildete, innerhalb dessen neue Gedanken gefasst werden konnten, so stellt der Zeitraum der eigentlichen Aufklärung von 1700 bis 1790 die erfolgreiche Verbreitung, Übernahme, Radikalisierung und Anwendung dieser Ideen dar. Diese Hochaufklärung, insbesondere ab 1750, ist auch die Zeit, in der intellektuellen Debatten zum ersten Mal weite Kreise der urbanen und gebildeten Gesellschaft erreichen. In den Kaffeehäusern und an den Universitäten fast jeder europäischen Stadt werden die neuen Ideen mit einer Schärfe und Vehemenz diskutiert, die auch zu offenen Konflikten mit den kirchlichen und staatlichen Autoritäten führt, bis schließlich diese Autoritäten selbst die Ideale „aufgeklärten“ Denkens für sich vereinnahmen. Als die westliche Welt ab 1760 sich selbst in einem „Zeitalter der Aufklärung“ sieht, haben die neuen Ideen die europäischen Gesellschaften schon tief durchdrungen – und in politische Bewegung versetzt.

Der während der Frühaufklärung bereits sichtbare Trend, dass die neuzeitlichen Ideen in entstehenden nationalen Teilöffentlichkeiten debattiert werden, setzt sich während der Hochaufklärung fort und erfasst auch neue Regionen. In Frankreich reagieren Jean-Jaques Roussau und der Baron von Montesquieu auf die politischen Gedanken aus England, Holland und Deutschland und fügen neue Gedanken zu den Theorien von Staat und Recht hinzu: etwa die Idee, dass die Staatsgewalt nicht absolut und einheitlich, sondern in verschiedene sich gegenseitig kontrollierende Instanzen getrennt sein soll, und dass die Regierungen die Rechte und den politischen Willen der Bürger repräsentieren soll. Julien de La Mettrie führt die materialistischen und mechanistischen Gedanken von Descartes weiter, und spekuliert, dass der Mensch lediglich eine weitere Maschine sein könnte. Die bereits oben genannten Denker Denis Diderot und Jean d’Alembert setzen am bereits präsenten Lexikon-Gedanken an und nehmen ein epochales Monumentalwerk in Angriff: eine Enzyklopädie des gesamten Wissens ihrer Zeit in 17 Bänden, für das mehr als 200 Autoren schreiben und das das historische Selbstbewusstsein der Epoche erstmals wiederspiegeln sollte. Fast die gesamte europäische Bildungselite der Zeit weiß um dieses Projekt und steht mit den Herausgebern in Korrespondenz. Zuletzt steht eine Figur wie Voltaire exemplarisch für das Sendungsbewusstsein der Aufklärung: er verteidigt ihre Ideen journalistisch und mit einer breiten Medienöffentlichkeit, er setzt die Hoffnung auf eine Veränderung der Wirklichkeit durch die Kraft der Ideen erfolgreich in Romanen um, korrespondiert mit den Herrschern Europas und generiert eine historisch einmalige Aufmerksamkeit für das aufklärerische Projekt. In Frankreich findet auch der Höhepunkt der Epoche statt: der Sturm auf die Bastille 1789, durch den die Bürger von Paris politische Mitbestimmung und Bürgerrechte einfordern und die französische Revolution beginnen. Nach dieser ist nicht nur symbolisch der französische König enthauptet, sondern auch die erste moderne, bürgerliche Demokratie auf europäischem Boden errichtet – deren erste stabile Regierung eine Terrorherrschaft ist.

In England führen Gelehrte wie Samuel Johnson zu der Schaffung einer breiten literarischen Öffentlichkeit und schaffen durch Literaturkritik nationale Sprach- und Schreibstandards. Mathematiker wie Thomas Bayes nehmen die neuen erkenntnistheoretischen Impulse auf und professionalisieren die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Einen fast eigenständigen Verlauf nimmt die Aufklärung in Schottland und Irland. Für eine Zeit ist Dublin ein Zentrum intellektuellen Diskurses. Hier entwickelt George Berkeley den englischen Empirismus weiter und widmet sich, im Anschluss an Newton, der Wissenschaft der Optik. Hier kritisiert Jonathan Swift die Engstirnigkeit, die den Aufklärern entgegenschlägt, sowie die Armut des Landes und die repressive Politik der britischen Regierung mit bissiger Satire. Edmund Burke widmet sich hier ebenfalls der Sozialphilosophie und steht sowohl den sozialen Zuständen seiner Zeit als auch den radikalen Ideen der französischen Aufklärer kritisch gegenüber. Er kritisiert die Selbstermächtigung und die blutige Politik der französischen Revolutionäre nach 1790 – und gilt deswegen als Vordenker des modernen, bürgerlichen Konservatismus. Francis Hutcheson, ein Ire in Schottland, greift den Gedanken des moralischen Gefühls bei Shaftesbury auf und macht ihn zur Grundlage der Idee, dass die Wirtschaft der Wohlfahrt der Allgemeinheit nützen soll. Im Schottland seiner Zeit fallen diese Gedanken auf fruchtbaren Boden. Das Land zeichnet sich durch eine starke Stellung des kaufmännischen Bürgertums in den Städten aus. In dieser Atmosphäre legen die schottischen Intellektuellen einen besonderen Fokus auf den pragmatischen Nutzen und die Anwendbarkeit der aufklärerischen Ideen. Thomas Reid schreibt hier über die Priorität des „gesunden Menschenverstandes“ bei der Beurteilung philosophischer, politischer und ökonomischer Fragen. Sein Nachfolger Adam Smith widmet sich der ersten systematischen wissenschaftlichen Beschreibung der Arbeitsteilung und den Vorteilen einer freien internationalen Geld- und Warenzirkulation für den Wohlstand des Einzelnen. David Hume antwortet auf den Empirismus Lockes‘ und Berkeley’s und argumentiert gegen den starren erkenntnistheoretischen Gewissheitsanspruch von Descartes mit einer philosophischen Verteidigung probabilistischer Sätze als Fundament sicherer wissenschaftlicher Erkenntnis. Er ist somit der erste Denker, der seine hauptsächliche Arbeit Teilen des Induktionsproblems gewidmet hat.

Der schottische und irische Pragmatismus hat Einfluss auf die Kolonien in Amerika, wo viele Auswanderer aus den britischen Inseln leben. Hier popularisiert Thomas Paine den Gedanken des gesunden Menschenverstandes als intellektuelles Instrument für den Republikanismus und gegen die Bevormundung und Besteuerung der Amerikaner durch das britische Königshaus. Zusammen mit den Gedanken des Vernunftsrechts und den neuen Theorien über die Legitimität des Staates durch politische Repräsentation facht dies die Revolution von 1776 und den folgenden Unabhängigkeitskrieg an. Amerikanische Intellektuelle wie George Washington, Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, John Adams und Thomas Madison beziehen sich, als sie die Verfassung der ersten republikanischen Demokratie im Westen gründen, explizit auf die Ideen und Theorien der Aufklärung. Sowohl ihr rechtlicher, politischer und ökonomischer als auch ihr philosophischer, wissenschaftlicher und religiöser Bezugsrahmen ist auf diese Weise von Überzeugungen geprägt, die in der europäischen Renaissance, im Protestantismus und in der naturwissenschaftlichen Revolution wurzeln.

In Deutschland ist der preußische Herrscher Friedrich II. einer der ersten europäischen Regenten, die sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Politik auf Ideale der Aufklärung beziehen. Er macht, u.a. durch Kontakt zu französischen Intellektuellen, Preußen zu einem kulturellen und wissenschaftlichen Vorreiter der Zeit. Literaten und Literaturkritiker wie Lessing und Gottsched leisten für den deutschen Sprachraum ähnliches wie Samuel Johnson in England: sie schaffen eine vereinte literarische Öffentlichkeit und neue Sprachstandards. Lessing und sein Zeitgenosse Hermann Reimarius kritisieren durch eine historische Bibelauslegung sogar erstmals öffentlich den Gedanken, dass die Bibel das menschenunabhängige, reine Wort Gottes sei. Damit wollen sie ultimativ die Religion vom Primat und der Wurzel der menschlichen Vernunft abhängig machen – ein Optimismus gegenüber der Unabhängigkeit und Fähigkeiten des menschlichen Geistes, der sie in heftigen Konflikt sowohl mit der evangelischen als auch der katholischen Kirche bringt. Literaten und Philosophen wie Herder, Goethe und Schiller problematisieren ebenfalls den religiösen und institutionellen Dogmatismus ihrer Zeit und debattieren die Vorzüge von republikanischer Herrschaft sowie nationaler Unabhängigkeit und Einheit, die sie in Amerika und schließlich in Frankreich sehen. Ihre theoretische, kreative und philosophische Durchdringung deutscher Literatur und Kultur führt zu der ersten Entstehung eines genuin deutschen Bildungskanons und bei Herder auch zu einer ersten Artikulation von bürgerlichem Nationalismus. Moses Mendelssohn führt die Ideale der Aufklärung in einen jüdischen Kontext ein und führt so zu einer ersten Interpretation jüdischen Bildungslebens in das deutsche Bürgertum. Hier werden die Ideale der religiösen Toleranz zum ersten Mal im deutschen Sprachraum auf nicht-christliche Gläubige ausgeweitet – ein erstes Kennzeichen eines sozialen Pluralismus, der für die moderne Gesellschaft so charakteristisch ist. Gleichzeitig vermessen Wissenschaftler und Philosophen wie Georg Lichtenberg oder der oben genannte Johann Henrich Lambert die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und die Grundlagen sicheren Wissens. Sie reagieren damit auf die Debatten von Descartes, Locke, Leibniz und Hume.

Es ist schließlich Immanuel Kant, der die Epoche der Aufklärung fast zeitgleich zur französischen Revolution auch intellektuell zu ihrem Abschluss bringt. Mit seiner Transzendentalphilosophie (1781) kombiniert er die philosophischen Systeme des Rationalismus und Empirismus und legt jede Grundlage sicheren Wissens in den Anteil, den die menschliche Vernunft an der mentalen Konstruktion der Realität hat. Auf diese Weise ist er in der Lage, eine erste Lösung für das Problem der Induktion zu präsentieren, das die Gewissheit wissenschaftlicher Sätze über die gesamte Epoche der Aufklärung hinweg zu einem Problem gemacht hat: für Kant ist jede Aussage, die von einer menschlichen Sinneserfahrung oder Beobachtung abgeleitet wird, insofern gewiss, als dass die menschlichen Vernunft die Bedingung selbst ist, die die Erfahrung von Sinnes- und Beobachtungsdaten möglich macht. Wenn wir uns innerhalb der Grenzen der Vernunft bewegen, sind unsere Aussagen wahrheitsfähig – was zählt, ist nicht allein das Benutzen der Vernunft, sondern das Wissen um ihre Wirkungsweise und ihre Beschränkung. Wenn die Aufklärung die vollständige Ausweitung und Verfügbarmachung des menschlichen Geistes für alle Bereiche des menschlichen Denkens und Handelns ist, so stößt sie bei Kant also quasi buchstäblich an ihre eigenen Grenzen. Er synthetisiert allerdings nicht nur die wissenschaftlichen Begriffssysteme seiner Zeit, sondern auch die verschiedenen Erklärungen zu der Begründung der Moral, die seit Hobbes ein philosophisches Problem darstellt. Für Kant lässt sich Moral ebenfalls – wie wissenschaftliche Erkenntnis – auf das Primat der Vernunft zurückführen, durch das sie für alle vernünftigen Wesen verpflichtend ist. Denn wer Vernunft besitzt, so Kant, muss sich selbst zwangsläufig als frei und selbstbestimmt denken, und dies auch bei anderen annehmen. Er muss also akzeptieren, dass er dazu verpflichtet ist, alle anderen Menschen wie sich selbst als einen Zweck in sich selbst zu behandeln – wie in einem fortwährenden hypothetischen Vertrag. Bei Kant wird das einzelne Subjekt zum Ausgangspunkt und zum Ziel alles menschlichen Handelns, Denkens und Wissens. Wenn er also sagt, dass die Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit durch den Gebrauch seines eigenen Verstands ist“, reflektiert er damit auch die Schwerpunkte seines eigenen Systems, das wie kein anderes die Kernthesen der Aufklärung abdeckt: die Verknüpfung von Vernunft und Freiheit, das Übereinstimmen von moralischem Handeln und Selbstverantwortung und die Hoffnung auf universale Ausweitung von Wahrheit, Rationalität und Rechtmäßigkeit in alle Bereiche menschlichen Lebens und der Welt.

  1. Das „Projekt Aufklärung“ heute

Aus diesem geschichtlichen Überblick sollten die Schwerpunkte aufklärerischen Denkens bereits hervorgegangen sein: beispielsweise die Überzeug, dass jede(r) Einzelne für sich denken kann und soll, der Gedanke, dass jede(r) Einzelne aufgrund des Menschseins allein bereits gewisse Rechte besitzt, die im privaten, öffentlichen und politischen Raum eingefordert werden können, oder die Idee, dass jede(r) Einzelne Verantwortung für sich selbst trägt und von keiner Autorität, sei sie kirchlich oder staatlich, von dem Gebrauch der Freiheit im Denken und Handeln abgehalten werden soll. Zu den Fragen, was genau diese Fähigkeit, selbst zu denken, ausmacht, wie weit die universalen Rechte des Menschen reichen oder worin genau Selbstverantwortung besteht, präsentieren die bislang portraitierten Aufklärer – von denen sich nur ungefähr die Hälfte bewusst der Aufklärung zurechneten – sehr unterschiedliche Antworten. Ihnen allen gemein sind jedoch einige fundamentale Prämissen.

Der Aufklärung liegt der Gedanken zugrunde, dass die Fähigkeiten, die im Menschen und in der Menschheit veranlagt sind, etwas sind, dass zur Entfaltung kommen sollte. Sie identifizieren das gute Leben und die gute Gesellschaft mit Umständen, in denen sich diese menschlichen Naturanlagen frei entfalten können. Die Aufklärer hoffen, dass mit dem Gebrauch der Rationalität allein der Mensch seine Lebensführung, seine Gesellschaft und die Welt zu diesen Umständen führen kann. Diese Rationalität ist für die Aufklärer sowohl ein Instrument, das es zum Erreichen der gewünschten Ziele zu benutzen gilt, als auch ein besonderes Eigentum des Menschen, das zu beschützen und respektieren ist. Sie glaubten, dass, obwohl das Wissen des Einzelnen dem Gesamtsystem der Wissenschaft notwendig untergeordnet ist, der einzelne Mensch mithilfe seiner Rationalität Dinge für sich selbst herausfinden muss – und dass dem Menschen diese Last der Erkenntnis auch von keiner Institution abgenommen werden kann. Zuletzt waren sie davon überzeugt, dass Freiheit notwendig ist, damit sich die menschliche Rationalität entfalten kann, und dass es darauf ankommt, die Fähigkeit aller Menschen zur Freiheit anzuerkennen und die Entwicklung dahin zu fördern. Dies macht die Aufklärung zu einer Bewegung der Emanzipation und der Universalität. Emanzipation, weil für die Aufklärer die Anerkennung der Freiheit selbst ein Akt der Befreiung ist. Universalität, weil die Aufklärer die Annahmen, dass die Menschen Freiheit verdient haben und Rationalität besitzen, keiner exklusiven Gruppe, sondern – trotz der eurozentrischen Rhetorik, der sie sich bedienen – grundsätzlich der gesamten Menschheit zuschreiben.

Dies führt zwei Dinge nach sich. Zum einen wird die Aufklärung zum Boden fast aller globalen und modernen politischen Emanzipationsbewegungen. Es gibt fast keine unterdrückte Gesellschaftsgruppe, die in den Jahrhunderten seit der Aufklärung nicht zumindest die Ideale übernommen hätte, die die Aufklärung ihnen im Kampf für Befreiung und Anerkennung bereitstellt. Die Feministen, die rechtliche Gleichstellung, die Arbeiter, die politische und ökonomische Mitbestimmung, die Menschen aus den ehemaligen europäischen Kolonien, die Wiedergutmachung und Gleichbehandlung fordern: sie alle beziehen sich mehr oder weniger explizit auf Ansprüche, die die Aufklärer zu einem allgemeinen Gedankengut und zu einer Projektionsfläche der Hoffnung gemacht haben. Auf diese Weise stellen die Begriffsschemata der Aufklärung – Freiheit, Rationalität und Universalität – die Kategorien von Gerechtigkeit, Gleichheit und Fortschritt bereit, mit denen wir heute politische Konflikte beurteilen.

Zum anderen wird die Epoche der Aufklärung seither an den Ansprüchen gemessen, die sie sich als philosophisches und soziales Projekt selbst gegeben hat. Dies macht „Aufklärungskritik“ quasi genauso alt wie die Aufklärung selbst. Eine prominente Variante kommt aus der Romantik ab 1780, die der Aufklärung vorgeworfen hat, sie habe durch ihren Fokus auf Rationalität und Vernunft den Menschen von seinem Gefühl, seiner natürlichen Religiosität und seinem Einklang mit der Natur entfernt – sie habe ihm also nicht dem Glück nähergebracht, sondern es ihm vielmehr erschwert. Eine noch prominentere Aufklärungskritik kommt von Karl Marx. Er behauptete, dass die Hoffnung der Aufklärung, durch die Nutzung der Naturkräfte, das Anheben der Produktion, das Erlassen bürgerlicher Gesetze und der Ermöglichung freier Warenzirkulation größeren Wohlstand und Freiheit für alle zu schaffen, sich zwangsläufig gegen sie selbst wenden muss. Statt größerer Freiheit würden die neuen Ideen, Politik- und Wirtschaftsformen lediglich neue Zwänge schaffen, statt der Befreiung aller Menschen lediglich neue Unterdrücker und neue Unterdrückte hervorbringen. Marx sah die Aufklärung als Triumph der bürgerlichen Klasse über die Aristokraten und scheute nicht davor zurück, der bürgerlichen Klasse die Niederlage im nächsten Klassenkampf vorauszusagen. Dieses Geschichtsmodell wurde im 20. Jahrhundert von Theodor Adorno und Max Horkheimer aktualisiert: in der Dialektik der Aufklärung argumentieren sie, dass die Befreiung der Aufklärung von den alten Autoritäten bereits in sich die Veranlagung zu neuen Zwängen trägt: aus der Hoffnung auf die Befreiung durch die Vernunft wird die Hoffnung auf die Befreiung von der Vernunft. Das Interessante an dieser Aufklärungskritik ist, dass sie, obgleich kritisch gegenüber den Konsequenzen der Aufklärung, nicht vermeiden kann, intrinsisch aufklärerische Maßstäbe zu nutzen, um diese Kritik anzubringen. Es ist deswegen üblich geworden, von der Aufklärung wie von einem unabgeschlossenen Projekt zu reden. Unter dieser Perspektive ist die Aufklärung eine fortwährend ausstehende Aufgabe, eine Richtschnur, die immer wieder neu angelegt oder eine Zielsetzung, die immer wieder neu formuliert werden kann.

Es ist allerdings irreführend, von der Aufklärung so zu reden, als wäre sie eine universale historische Instanz, die sich in den verschiedensten Epochen und verschiedensten Kulturen finden lässt und auf die sich jederzeit berufen werden kann, wenn eine „Gegenaufklärung“ überwunden werden muss oder eine Region eine Aufklärung „benötigt“. Wie deutlich geworden sein sollte, ist das Projekt der Aufklärung mit den historischen Entwicklungen in Europa und Amerika untrennbar verbunden. Die neuen Ideen waren nichts, das eine spontan auftretende Bewegung in einem ansonsten ignoranten Kontinent erfolgreich „einführen“ und seitdem erfolgreich „exportieren“ konnte. Stattdessen waren sie Ergebnisse eines andauernden intellektuellen Gesprächs mit vielen Gesprächspartnern zu verschiedenen Zeiten und Orten. Die Aufklärer haben in diesem Gespräch neue Akzente und Standards gesetzt, derer wir uns heute bedienen, die wir allerdings auch kritisieren oder verändern können. Im Sinne der Aufklärer ist es wahrscheinlich, ihre Worte nicht zu neuen Autoritäten zu machen, sondern das Gespräch, an dem sie beteiligt waren, kritisch weiterzuführen.

Bibliographie

Himmelfarb, Gertrude (2005): The roads to modernity. The British, French, and American Enlightenments. 1st Vintage books ed. New York: Vintage Books.

Flasch, Kurt (1986): Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart: P. Reclam (Universal-Bibliothek, Nr. 8342).

Maximilian Priebe

Maximilian Priebe studiert Philosophie am King’s College London. Er ist Young Affiliate des Netzwerks für Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie (NOUS), Stipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst und Mitgründer des studentischen Philosophiemagazins Die Funzel. Neben einem Interesse an der europäischen Ideengeschichte liegen seine Schwerpunkte im Bereich der Erkenntnistheorie sowie der Sozial- und Kulturphilosophie.