Utilitarismus

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Von Malte Hendrickx

Einleitung

Der Utilitarismus ist eine konsequentialistische Position der Ethik und bemisst daher den ethischen Wert von Handlungen anhand ihrer Konsequenzen. Der Utilitarismus unterscheidet sich von anderen konsequentialistischen Theorien darin, dass er die moralisch relevanten Konsequenzen als den Nutzen und den Schaden einer Handlung für empfindungsfähige Lebewesen festlegt. Hierbei ist eine Handlung insoweit moralisch richtig, wie ihre Konsequenzen für alle moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen den Nutzen maximieren und den Schaden minimieren. Der Utilitarismus ist eine unparteiische Ethik: die moralisch richtige Handlung maximiert den Nutzen aller, unabhängig davon, in welcher Beziehung sie zum Handelnden stehen. Der moralische Wert von liberalen Konzepten wie Freiheit, Rechten und Selbstbestimmung ist aus utilitaristischer Sicht nicht intrinsisch, sondern instrumentell. Utilitaristen fordern eine liberale Gesellschaft, weil sie den Nutzen ihrer Mitglieder maximiert, nicht um ihrer selbst willen.

Formen des Utilitarismus

Utilitaristische Positionen unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich ihres Nutzenbegriffs und ihres Verhältnisses zu Handlungen und Regeln.

Bezüglich des Nutzens unterscheidet man zwischen hedonistischem Utilitarismus und präferenzbasiertem Utilitarismus. Hedonistische Utilitaristen reduzieren den Nutzen und Schaden einer Handlung auf Freude und Leid: eine Handlung ist soweit moralisch richtig, wie ihre Konsequenzen die empfundene Freude aller zu berücksichtigenden Lebewesen maximiert und das empfundene Leid aller zu berücksichtigenden Lebewesen minimiert. Präferenzbasierte Utilitaristen argumentieren, dass nicht aller ethisch relevante Nutzen sich auf Freude und Leid reduzieren lässt. Beispielsweise ist ein erfolgreich absolvierter Marathon mit viel Leid verbunden, jedoch nicht schlecht: Sie argumentieren, dass es absurd wäre, die Menge an absolvierten Marathons minimieren zu wollen. Stattdessen fordern präferenzbasierte utilitaristische Theorien, die gewichteten Wünsche der moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen in den Mittelpunkt einer utilitaristischen Theorie zu stellen: eine Handlung ist moralisch richtig, insoweit ihre Konsequenzen die gewichteten Präferenzen aller zu berücksichtigenden Lebewesen bestmöglich erfüllen. Die Gewichtung ist hierbei individuell unterschiedlich: ein Sportfan präferiert das Laufen eines Marathons über das Essen eines Kuchens, während ein leidenschaftlicher Gourmet die umgekehrten Präferenzen haben könnte – selbst wenn beide das Laufen oder Essen dem Nichts-Tun gegenüber präferieren.

Ebenfalls unterschieden wird zwischen utilitaristischen Theorien, die die Optimierung der Konsequenzen einer Handlung fordern (Akt-Utilitarismus) und jenen, die die Optimierung der Konsequenzen einer handlungsleitenden Regel fordern (Regel-Utilitarismus).

Geschichte

Als Gründervater des Utilitarismus gilt Jeremy Bentham (1748–1832). In den Augen Benthams waren viele Gesetze und Praktiken seiner Zeit unethisch, da sie nicht auf positive Konsequenzen für die Menschen abzielten, sondern auf Konformität mit Regeln und Traditionen der jeweiligen Kultur. Gesetze sollten laut Bentham nicht einfach verbieten, was den Gesetzgebenden negativ aufstieß oder ethisch fragwürdig erschien. Stattdessen sollten Gesetze nur anhand ihrer Konsequenzen für das Wohlergehen aller Menschen bewertet und rechtfertigt werden. Bentham stellte hierzu das berühmte hedonistische Kalkül auf, eine erste Methode zur Beurteilung der Auswirkungen einer Handlung auf Freude und Leid aller von der Handlung Betroffenen.

Aus liberaler Perspektive von großer Bedeutung sind die Eheleute John Stuart Mill (1806–1873) und Harriet Taylor Mill (1807–1858). Auf Grundlage einer utilitaristischen Ethik, rechtfertigten sie eine Vielzahl liberaler Forderungen und gelten deswegen als zentrale Figuren des klassischen Liberalismus. Aus utilitaristischen Überlegungen heraus wandte sie sich gegen die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Sexualität. Auch sprachen sie sich für ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben aus und forderten ein allgemeines Wahlrecht, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Während ihre Forderungen aus heutiger Perspektive selbstverständlich scheinen, galten die Forderungen der Mills selbst vielen liberalen Zeitgenossen als unerträglich radikal. Bis heute gilt im Besonderen J. S. Mills “On Liberty als zentrales Werk liberaler Ethik.

Gegenwart

Im 20. und 21. Jahrhundert hat der Utilitarismus insbesondere seit den 70er Jahren an Prominenz gewonnen. Hierbei wird häufig Peter Singer als zentraler Autor herausgehoben, dessen Werke zur Tierrechtsbewegung (“AnimalLiberation”) und zur Armutsbekämpfung (“Famine, Affluence and Morality”) zu den einflussreichsten der gegenwärtigen Ethik gehören. In Folge dieser Werke sind zentrale Themen moderner utilitaristischer Ethiken die Ausweitung ethischer Pflichten gegenüber Menschen, die in extremer Armut leben, der Schutz nicht-menschlicher Tiere vor Leid in der Massentierhaltung sowie der Schutz der Interessen zukünftiger Generationen vor Risiken, etwa durch den Klimawandel oder riskante Technologien. In den Augen von modernen Utilitaristen enden moralische Pflichten nicht an Ländergrenzen oder der Spezieszugehörigkeit.

Neben der Tugendethik und der Deontologie gelten utilitaristische Theorien als dritte zentrale Position der modernen Ethik. Hierbei wird modernen utilitaristischen Theorien eine besonders praktische Ausrichtung attestiert: Organisationen wie Giving What We Can, 80,000 Hours, Effektiver Altruismus und Effektiv Spenden ermöglichen ihren Mitgliedern, Geld und Karriere möglichst effektiv für ethische Ziele einzusetzen.

Kritik

Kritiker des Utilitarismus werfen ihm vor, überfordernd zu sein. Der Utilitarismus sieht keinen ethisch relevanten Unterschied zwischen dem eigenen Nutzen und dem Nutzen eines anderen. Daher würde seine konsequente Anwendung insbesondere wohlhabende Individuen (z. B. Bewohner westlicher Industrieländer) dazu aufrufen, viele ihrer Ressourcen zur Maximierung des Nutzens von Menschen in ärmeren Ländern aufzuwenden.

Weiter wird dem Utilitarismus gerade aus liberaler Perspektive vorgeworfen, er könne zentrale Bausteine liberaler Gesellschaften wie Menschenrechte und Minderheitenschutz nicht hinreichend garantieren. Da der Utilitarismus die Konsequenzen einer Handlung unabhängig von ihrer Konformität mit z. B. Verträgen und Abkommen optimieren möchte, kann es zu Konflikten kommen. Wenn beispielsweise eine überwältigende Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft einen starken Nutzen darin sähe, eine verschwindend kleine Minderheit zu diskriminieren, so scheint der Utilitarismus ein solches Verhalten nicht abzulehnen oder unter Umständen sogar als moralisch geboten zu erachten. Utilitaristen entgegnen hierauf, dass es nach dem Utilitarismus durchaus geboten sein kann, klare Regeln aufzustellen und einzuhalten, wenn es langfristig den größten Nutzen garantiert. Diskriminierung von Minderheiten geht mit einem drastischen negativen Nutzen seitens der Diskriminierten einher, weshalb Utilitaristen historisch eine zentrale Rolle im Kampf für die Rechte von diskriminierten Minderheiten gespielt haben.

Literatur

Bentham, Jeremy, 1789. An Introduction to the Principles of Morals and Legislation.

Mill, John Stuart. Utilitarianism (1863); On Liberty (1859).

Singer, Peter. Famine, Affluence Morality (1972); Practical Ethics (2011; 3rd edition).

Donner, Wendy, 1991. The Liberal Self: John Stuart Mill’s Moral and Political Philosophy.

MacAskill, William et al., 2020. Introduction to Utilitarianism

Malte Hendrickx

Malte Hendrickx promoviert an der Universität Michigan, Ann Arbor, in Philosophie mit einem Schwerpunkt auf Ethik und Philosophie des Geistes. Er ist Young Affiliate im Netzwerk für Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie, Frédéric Bastiat Fellow am Mercatus Center sowie Mitglied beim Effektiven Altruismus und Giving What We Can. Zuvor war er Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.