Berlin, Isaiah

Rob C. Croes Wikimedia Commons (CC0)

Von Rick Wendler

Isaiah Berlin war ein Meister der Ideengeschichte und gilt als einer der bedeutendsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er sah sich in der Tradition der Aufklärung und war ein entschiedener Verteidiger von Freiheit und Vielfalt in einer Zeit, in der diese Werte mitunter vehement in Frage gestellt wurden.

Ein Leben als jüdischer Immigrant in den höchsten Kreisen

Berlin wurde 1909 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Riga geboren. Aufgrund der Unruhen des ersten Weltkriegs zog die Familie nach St. Petersburg, wo Berlin im Jahr 1917 den Untergang des Zarenreichs in der Februarrevolution und die Machtergreifung der Bolschewisten in der Oktoberrevolution erlebte. Diese Ereignisse hinterließen einen bleibenden Eindruck auf ihn und begründeten seine nachhaltige Ablehnung politischer Gewalt, seine innere Distanz zu dogmatischem Idealismus und jeglichem utopistischen Denken. Nach dem Krieg nach Riga zurückgekehrt, war die Familie zusehends antisemitischen Schikanen ausgesetzt. Daher siedelte sie 1919 nach London über, wo Berlin tief beeindruckt war vom liberalen Humanismus der gehobenen britischen Gesellschaft.

In Oxford studierte er Geisteswissenschaften, wozu damals vor allem Geschichte der Antike, alte Sprachen und Philosophie zählte. An der Universität arbeiteten damals insgesamt nur drei Juden und er wurde bereits mit 23 Jahren der erste jüdische Stipendiat des All Souls College. Viele weitere Auszeichnungen sollten folgen.

Berlin war nicht nur ein brillanter Kopf, sondern hatte auch eine außerordentliche Begabung für Konversation. Seine Fähigkeit, Gesprächspartner äußerst kurzweilig und geistreich zu unterhalten, öffnete ihm die Türen in die englische High Society. So stellte er sich während des Zweiten Weltkriegs auch in den Dienst der britischen Diplomatie. In den USA verfasste er Berichte für den Nachrichtendienst über die amerikanische Politik, die auch von Winston Churchill gelesen wurden. Später arbeitete er für die britische Botschaft, erst in Washington, nach dem Krieg auch in Moskau, wo er den moralischen Verfall des Sowjet-Regimes unter Stalin aus nächster Nähe erlebte.

1946 kehrte er nach Oxford zurück, was für den Großteil seines Lebens der Mittelpunkt seines Schaffens war. Die bestimmenden Themen seiner akademischen Karriere waren die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Aufklärung, Freiheit und Wertepluralismus. Er schrieb eine intellektuelle Biografie über Karl Marx, die allerdings seine einzige Monografie bleiben sollte. Denn ansonsten verfasste er Essays und hielt Vorträge und Vorlesungen. Er hatte einen Ruf als scharfer Denker und schneller Redner. Er war bekannt dafür, dass er das Wort „Epistemologie“ als eine einzige Silbe aussprechen konnte. Dennoch waren seine Vorlesungen  sehr beliebt, mit langen Schlangen vor den Hörsälen. Er wurde zu einem allseits geschätzten Intellektuellen mit regelmäßigen Audienzen bei den britischen Premierministern und der Queen, aber auch bei John F. Kennedy und Mikhail Gorbatschow.

Berlin starb 1997 in Oxford.

Freiheit – negativ oder positiv?

Berlins gesamtes Werk ist durchzogen von einer aufgeklärten, anti-autoritären Grundhaltung. In seiner bekanntesten Abhandlung „Zwei Freiheitsbegriffe“ stellt er die unterschiedlichen Konzepte einer negativen und einer positiven Freiheit einander gegenüber. Die negative Freiheit meint Freiheit von etwas – von äußerem Zwang. Darüber hinaus sei jeder Mensch selbst dafür verantwortlich, was er mit dieser Freiheit anfange. Dieses Freiheitsverständnis entspricht dem des Klassischen Liberalismus, wie es beispielsweise von John Stuart Mill oder Wilhelm von Humboldt als Abwehrrecht gegen den Staat definiert wurde.

Dagegen meint positive Freiheit, Freiheit zu etwas – zur vollen Entfaltung der eigenen Möglichkeiten. Man sei nicht bereits frei, wenn sich andere nicht in unsere Angelegenheiten einmischten, sondern erst dann, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen erfüllt sind, damit wir tun können, was wir tun wollen. Freiheit habe daher bestimmte positive Voraussetzungen. Was diese Voraussetzungen seien, wird von Vertretern dieses Freiheitskonzepts durchaus unterschiedlich ausgelegt. Es kann beispielsweise bedeuten, gesellschaftliche Machtungleichgewichte durch Regulierungen oder Umverteilung auszugleichen. Berlin erkannte das despotische Potential dieses Konzepts, das auf den ersten Blick harmlos erscheinen mag. Denn der der positiven Freiheit zugrundeliegende Gedanke ist, dass man nur ,wirklich‘ frei sei, wenn man sein ,wahres‘ Potential ausleben könne und das man notfalls eben auch dazu gezwungen werden könne, frei zu sein, wenn man nicht die nötige Einsicht in die wahre Natur des Menschen habe. Im Zweifelsfall müsse dann die positive Freiheit Vorrang vor der negativen haben. Das ist die Linie, die von Rousseau zu Robespierre, von Marx zu Stalin führte. Berlin zog das negative Freiheitskonzept vor. Freiheit dürfe nicht mit anderen Werten  durcheinandergebracht werden, auch wenn diese ebenfalls erstrebenswert sein mögen. „Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Glückseligkeit oder ein ruhiges Gewissen.“

Fuchs oder Igel?

Berlin plädierte stattdessen dafür, dass verschiedene gesellschaftliche Werte in einen Ausgleich gebracht werden. Denn viele unterschiedliche Werte haben eine Berechtigung und können doch gleichzeitig in Konflikt miteinander geraten – Freiheit und Gleichheit beispielsweise, oder Gleichheit und Gerechtigkeit. Einen allein verbindlichen Wert könne es ebenso wenig geben wie eine umfassende Harmonie aller Werte. Die gesellschaftliche Werteordnung müsse auf Aushandlung und Kompromissen beruhen. Es könne kein allgemeines Prinzip geben, nachdem diese Werte allgemeinverbindlich geordnet werden müssen. „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

In einem Essay zu Leo Tolstoi schlug er eine Unterteilung von Intellektuellen in Füchse und Igel vor, wobei er sich auf ein Versfragment des antiken Dichters Archilochos bezieht: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding.“. Dementsprechend seien Igel solche Denker, die versuchten, die gesamte Menschheitsgeschichte mit einem einzigen Prinzip und einer unverrückbar feststehenden Werteordnung zu erklären und Menschen oft als den historischen Zwangsläufigkeiten unterworfen sehen. Füchse hingegen sehen die Vielfalt an möglichen Erklärungen, Perspektiven und Wertpräferenzen. Sie sehen die vielen losen Enden, die zu verschiedenen Ansätzen verknüpft werden können. Shakespeare, Goethe oder Joyce sind für Berlin typische Füchse; Platon, Hegel und Proust typische Igel.

Die intellektuelle Stärke Berlins lag insbesondere darin, stets auch die Nuancen und Ambivalenzen herauszuarbeiten; auch das Beachtliche im Kritisierten zu würdigen und das Objekt der eigenen Sympathie nicht vor Kritik zu schonen. Diese Fähigkeit macht ihn auch zu einem Vorbild für heutige Debatten.

Rick Wendler

Rick Wendler promoviert in Rechtswissenschaften an der Universität Jena über die spontane Ordnung in der hayekianischen Rechtsphilosophie. 2017 und 2018 war er in leitender Position für die Students for Liberty Deutschland verantwortlich.