Humboldt, Wilhelm von
Von Dr. Michael von Prollius
Wilhelm von Humboldt zählt zu den großen Freiheitsdenkern in Europa und stellt auch als Bildungsreformer und scharfsinniger Gelehrter, der wiederholt im vorwiegend diplomatischen Staatsdienst tätig war, eine Ausnahmeerscheinung in Deutschland dar. Zusammen mit seinem Bruder Alexander, dem berühmten Naturforscher, zählt er zu den einflussreichen Persönlichkeiten deutscher Kulturgeschichte. Der Mitbegründer der Berliner Universität, die heute seinen Namen trägt, beschäftigte sich intensiv mit Bildung, Sprache, Literatur und Kunst.
In seiner 1792 vollendeten, aber erst nach seinem Tod publizierten Schrift „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ führte Humboldt den Staatszweck auf die Frage nach dem Zweck des Menschen zurück. Als vornehmste Aufgabe eines jeden Menschen, die jeder nur selbst leisten kann, sieht Humboldt die „proportionierlichste Bildung der Kräfte des Einzelnen zu einem Ganzen“. Die Aufgabe des Staates ist es, als prinzipieller Störer der Selbstbildung des individuellen Bürgers, dessen Entwicklung und Entfaltung nicht zu behindern.
Humboldt setzte sich konsequent gegen den umfassenden Ordnungsanspruch des Staates zur Wehr und lehnt insbesondere staatliche Eingriffe zum Zwecke der Wohlfahrt ab. Für Humboldt sind nur abstrakte allgemeine Regeln, die auf Sicherheitsbelange gerichtet sind, eine Aufgabe des Staates, d. h. der Staat ist letztlich nur dann zuständig, wenn die Rechte anderer missachtet werden.
Biographie
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) strebte nach einem Leben der Selbstvervollkommnung und konnte seine hohen an sich selbst gerichteten Ansprüche weitgehend realisieren. Von großbürgerlich-adeliger Herkunft und früh finanziell unabhängig, entwickelte sich der in Potsdam geborene spätere Gelehrte früh nach seinem Leitbild:
„Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung.“
Humboldt wuchs auf Schloss Tegel, das seine hugenottische Mutter mit in die Ehe gebracht hatte, und in einer Berliner Stadtwohnung auf. Sein Vater war preußischer Offizier und königlicher Kammerherr. Bereits in seiner Jugend wurde er wie sein Bruder intensiv unterrichtet. Wilhelms Bildungsfleiß erregte Aufsehen. Nach einem kurzen Studium in Frankfurt an der Oder und Göttingen mit Schwerpunkten in Philosophie, Geschichte und alten Sprachen sowie parallelen Bildungsreisen u.a. in die Revolutionsstadt Paris trat Wilhelm von Humboldt 1790 in den Staatsdienst ein. Nach nur einem Jahr in der Ausbildung für die Richterlaufbahn und den diplomatischen Dienst bat er um seine Entlassung. Anschließend betrieb er zusammen mit seiner Frau Caroline (Heirat 1791, acht gemeinsame Kinder) auf einem Gut in Thüringen intensive Bildungsstudien. Der Bildungsliberale war geprägt von den Ideen von Leibniz und Lessing, beeinflusst von den Ideen Herders und Rousseaus sowie Kants. Er stand in engem Kontakt mit Friedrich Schiller und avancierte zum scharfen Analytiker und konstruktiven Kritiker von Schiller und Goethe. Zeitlebens pflegte er intensive Kontakte zu vielen anderen Geistesgrößen.
In Thüringen schrieb er im Alter von nur 25 Jahren seine „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ nicht zuletzt unter dem Eindruck seines kurzen Staatsdienstes, der ihn zutiefst enttäuscht hatte.
Sein ungemein vielfältiges Leben konnte er ab 1796 durch ein Erbe finanziell unabhängig führen. Humboldt lebte als Privatier zeitweilig in Paris. Anschließend war er mehrere Jahre als Gesandter Preußens in Rom im Vatikan tätig. 1809/10 folgte ein kurzes, aber folgenreiches Engagement als Bildungsreformer. Binnen 16 Monaten schuf Humboldt als Leiter der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts das dreistufige Schulsystem, wirkte an der Gründung der Berliner Universität 1810 mit und prägte die Einheit von Forschung und Lehre – bei universitärer Selbstverwaltung zum Schutz der Universität vor dem Staat.
Als preußischer Diplomat und Minister wirkte Humboldt anschließend bis 1819 als Diplomat in Wien und London. Leider konnte er (s)eine liberale Verfassung für den Deutschen Bund beim Wiener Kongress nicht realisieren, trotz seines Wirkens als rechte Hand Hardenbergs und 1819 einem Intermezzo als Minister für ständische Angelegenheiten.
Die restlichen 15 Jahre seines Lebens verbrachte Humboldt als Privatgelehrter vor allem mit intensiven Sprachstudien auf Schloss Tegel. Als Bau- und Schlossherr engagierte er dort nicht nur Karl Friedrich Schinkel für den klassizistischen Umbau, sondern widmete sich auch der Förderung von Kunst und Künstlern. Humboldt beherrschte sieben Sprachen und gilt als Begründer der vergleichenden Sprachforschung. Für Liberale bedeutsam ist seine Feststellung, dass das Individuum durch die von ihm genutzte Sprache in seiner Freiheit sowohl begrenzt wird als auch mit ihr wächst.
In liberaler Hinsicht entfaltete er eine starke, direkte Wirkung u.a. auf John Stuart Mill. Bis heute inspiriert er Generationen von Freiheitsdenkern. Zwei Leitfragen kennzeichnen das Denken des Minimalstaatlers: Wie kann der Staat zur bestmöglichen Entfaltung der Kräfte der Bürger beitragen? Und: Was macht aus einem legitimen einen guten Staat?
Humboldt ganz modern: lebenslanges Lernen und Minimalstaat
Wilhelm von Humboldt ist 250 Jahre nach seiner Geburt wieder oder immer noch modern: „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.“ Heute ist lebenslanges Lernen eine allgegenwärtige Forderung. Bücher, Videos, Ratgeber und Coaches bieten ihre Tipps und Unterstützung in allen Lebensbereichen an.
Die humboldtsche porportionierlichste Bildung der Kräfte bedeutete auch für den großen Gelehrten ein permanentes Arbeiten an sich im Streben zu höheren Zielen – letztlich dem einen Ziel der Erkenntnis. Dabei war Humboldt ganz im Sinne der modernen Hirnforschung überzeugt, dass Begeisterung durch Begeisterung angefacht werde. Die Entwicklung des Menschen sah er als Bestimmung und als Prozess an, weshalb es keinen Endpunkt gebe. Und in Übereinstimmung mit der Glücksforschung gelangte Humboldt zur Erkenntnis, dass Glück auf kraftvoller Anstrengung beruhe: „Der Mensch genießt am meisten in den Momenten, in welchen er sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt“. Ferner sah er die höchste Befriedigung im ungeteilten Augenblick verwirklicht, was heute unter dem Stichwort Achtsamkeit propagiert wird. Schließlich passt zur modernen Entwicklung der Individualität, dass Humboldt Eigentümlichkeit und Beharrlichkeit als Gebote an den Charakter stellte. Im Einklang damit und gegen den Massenmensch der Moderne gerichtet ist seine Erkenntnis, dass Vielfalt zu Reichtum führt.
Bemerkenswert erscheint zudem seine Erkenntnis, dass Sprache sich emergent, nicht geplant entwickelt. Friedrich August von Hayek führte Sprache übereinstimmend als Beispiel für eine spontane Ordnung an. Für Humboldt wird Verstehen aus der Auffassung des Sprechenden und des Hörenden gebildet (modern: Sender und Empfänger). Menschen schaffen für den Sprachforscher durch ihr Sprechen einen Beitrag zur Sprache. Sie entwickeln sich mit und durch Sprache.
Den Minimalstaat hat Humboldt in seinem Pamphlet „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ konsequent durchdacht. Im Mittelpunkt steht die Frage des Staatszwecks, die Humboldt der Frage nach dem Zweck des Menschen unterordnet, weil ein Kollektiv keinen Zweck haben kann. Als vornehmste Aufgabe eines jeden Menschen, die jeder nur selbst leisten kann, sieht Humboldt die bestmögliche Entwicklung des Individuums aus eigenen Kräften im Verbund mit anderen Menschen in manngifachen Situationen an, letztlich die Bildung einer geistigen Individualität durch Worte.
Eine zentrale Rolle spielen in seiner Schrift die Polizeigesetze (Policeygesetze); sie bezeichneten eine Fülle von Gesetzen, Normen, An- und Verordnungen, zum Teil auch Verwaltungsakte, die mit dem Anspruch auf generelle Geltung eine „gute Ordnung“ herbeiführen sollten. Humboldts Schrift richtet sich gegen diesen umfassenden Ordnungsanspruch des Staates. So lehnt er insbesondere staatliche Eingriffe zum Zwecke der Wohlfahrt ab. Das gilt sowohl für das „positive Wohl“ einschließlich Leben und Gesundheit als auch für die moralische Erziehungsabsicht
Für Humboldt sind nur abstrakte allgemeine Regeln, die auf Sicherheitsbelange gerichtet sind, Aufgabe des Staates, d. h. der Staat ist letztlich nur dann zuständig, wenn die Rechte anderer gekränkt werden. Alles andere liegt jenseits der Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Ziel ist es, dass jeder Einzelne im Zuge (s)einer maximalen Ermächtigung ein selbst bestimmtes Leben führen kann. Auf diese Weise soll Freiheit auch der Einhaltung der Gesetze dienen, zumal idealer Weise freiwillige Vereinbarungen aus eigenem Antrieb an die Stelle staatlicher Gesetze treten sollen: „Die Staatseinrichtung an sich ist nicht Zweck, sondern nur Mittel zur Bildung des Menschen.“ Für Deutschland sprach er sich gegen eine Verfassung und für einen Staatenverein aus.
Andere über Humboldt
„Ist es ein Zufall, dass Deutschlands größter Theoretiker der Freiheit, Wilhelm von Humboldt, auch einer seiner größten Sprachtheoretiker war?“, konstatierte fragend Friedrich August von Hayek.
Johann Wolfgang von Goethe empfand es als „Glück, gleichzeitig mit den vorzüglichsten Männern zu leben“ und meinte damit Wilhelm und Alexander von Humboldt.
Friedrich von Gentz bemerkte: „Diese Kraft in sich und in anderen immer aufs Höchste zu befördern und ihr reines und freies Spiel in jedem menschlichen Wesen hervorzulocken und zu fixieren, das ist ihm der letzte Zweck allen Daseins und sein kontinuierliches Bestreben, wovon ihn weder Schmerzen noch Verdruss noch Misslingen abschrecken können. Dabei ist er nun der größte und vollendetste Gesellschafter, den es geben kann. Wenn man mit ihm redete, so ist es immer, als wenn man mit sich selbst redete, nur unendlich leichter.
Literatur
Tilmann Borsche: Wilhelm von Humboldt, München 1990.
Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße in der Welt, Berlin 2011.
Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (geschrieben 1792, publiziert postum 1851), Berlin 2016.
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Studienausgabe, Darmstadt 2002.
Peer-Robin Paulus (Hg.): Unter freien Menschen. Ein Wilhelm-von-Humboldt-Brevier, Bern 2008.