Burke, Edmund

National Portrait Gallery

Von Leo Straus stammt die Empfehlung, einen politischen Denker so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Statt Ideengeschichte aus der Retrospektive zu schreiben, solle man sich bemühen, den Blickwinkel der zu studierenden Autoren einzunehmen und mit ihnen nach vorn zu sehen. Wenn die vielen Ideenhistoriker, Philosophen und Politikwissenschaftler, die sich mit Edmund Burke befasst haben, diesen Ratschlag befolgt hätten, wäre der Burke-Rezeption ein hartnäckiges Missverständnis erspart geblieben, nämlich der Irrtum, Burke sei der „Vater“ des Konservatismus gewesen. In Wirklichkeit war Burke nie etwas anderes als ein klassischer Whig des 18. Jahrhunderts und, durch sein Denken und Handeln, der Stichwortgeber eines konservativen Liberalismus, der prägend für die politische Kultur Großbritanniens werden sollte.

Biographie

Edmund Burke wurde am 1. Januar 1730 in Dublin als Sohn des protestantischen Rechtsanwalts Richard Burke geboren. Seine Mutter, Mary Burke, stammte aus einer bedeutenden Familie der alten katholischen Oberschicht Irlands und war auch selbst Katholikin. Nach dem Schulbesuch in einem Dorf in der Grafschaft Cork und der weiteren Ausbildung an der Schule des Quäkers Abraham Shackleton in der Grafschaft Kildare, begann Burke 1744 ein Studium am Trinity College in Dublin. 1750 übersiedelte er nach London, um am Middle Temple das Studium der Rechte aufzunehmen, doch bald fasste er eine andere Zukunft für sich ins Auge. Statt der juristischen Profession schwebte ihm eine Laufbahn als Schriftsteller vor, und seine ersten Versuche auf diesem Gebiet zeigen eine ungewöhnliche Breite oder, wenn man so will, Unentschlossenheit. Philosophie, Geschichte und die Analyse der Gegenwart gehörten zu den Themen, denen er sich zuwandte. Als erste bedeutende Schrift erschien im Jahr 1756 die Vindication of Natural Society, eine Satire der politisch-religiösen Ideen Bolingbrokes.

Schon diese Schrift zeigte, dass Burke gewiss kein glänzender Stilist war, dass er zudem nicht das Zeug und den Willen dazu hatte, ein systematischer Philosoph zu werden. Seiner Bedeutung in der Geschichte des politischen Denkens hat das aber keinen Abbruch getan. Denn Burkes Stärke lag gerade darin, ohne Ausflüge ins Abstrakte oder gar Metaphysische tiefgründige Einsichten in die menschliche Natur und das Wesen des Politischen präsentieren zu können. Die literarische Form, die er in seinem Parcours durch Philosophie und Geschichte nach und nach fand, war der aus dem Augenblick, dem politischen Leben geborene Kommentar. Spätestens Mitte der 1760er Jahre war er zudem fest entschlossen, sein Glück in der Politik zu suchen.

Für einen anglo-irischen Homo novus aus der Mittelklasse war das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht unbedingt naheliegend und alles andere als einfach. Burkes Weg in die Politik führte über die Dienste, die er seit 1765 dem Marquess of Rockingham, einem der führenden Köpfe der Whig-Partei, als Privatsekretär leistete. Noch im selben Jahr wurde er im Wahlkreis Wendover erstmals ins House of Commons gewählt.

Von da an blieb Burkes politisches Leben unauflöslich mit dem der Whigs verbunden, die im 18. Jahrhundert das britische politische Systems dominierten. Alle Whigs betrachteten sich als Sachwalter der Glorious Revolution von 1688/89, und die Rockingham-Whigs, zu denen Burke gehörte, in besonderem Maße. Burkes gesamtes Politikerleben, von 1765 bis zu seinem Ausscheiden aus dem House of Commons im Jahr 1794, war im Grunde der Verteidigung dieses Erbes gewidmet. Von tatsächlicher politischer Macht blieb er allerdings zeitlebens ausgeschlossen. Aufgrund seiner Herkunft, wohl aber auch wegen seiner Ehe mit der irischen Katholikin Jane Mary Nugent, blieb ihm in der aristokratischen Partei der Whigs der Zugang zu höheren Regierungsämtern versperrt. Einzig das nachrangige Amt des Paymaster of the Forces vertraute man ihm zweimal für kurze Zeit an.

Wenn Burke also Bedeutung erlangte, dann durch seine Interventionen als Redner und politischer Schriftsteller, so etwa mit den 1770 erschienenen Thoughts on the Cause of the Present Discontents, die er selbst als das „politische Glaubensbekenntnis“ der Rockingham-Whigs bezeichnete. Alles in allem stellen die Thoughts eine whiggistische Theorie der britischen Verfassung dar, mit dem Zweck, die Rechte des Parlaments gegen die Krone zu verteidigen. Mit der gleichen Entschiedenheit verteidigte er aber auch die Rechte der Kolonisten in Amerika gegen die Ansprüche von Krone und Parlament. Im Vorfeld der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 wurde er nicht müde, hervorzuheben, dass die Aufständischen nichts anderes forderten als die ihnen als Engländer zustehenden Freiheiten.

Dass hat nach dem Ausbruch der Französischen Revolution im Juli 1789 nicht nur Thomas Paine zu der Annahme verleitet, Burke müsse auch in diesem Konflikt auf der Seite der Revolutionäre stehen. Tatsächlich nahm Burke in seiner berühmtesten Schrift, den Reflections on the Revolution in France, den gegenteiligen Standpunkt ein, weil die radikale Beseitigung einer historisch gewachsenen Ordnung aus seiner Sicht zu einer noch schlimmeren Tyrannei führen musste, als sie das französische Ancien Régime war. Gleichwohl unterstützte Burke nicht das Anliegen der französischen Gegenrevolutionäre. Vielmehr glaubte er, dass in Frankreich nun auf den Grundlagen des Ancien Régime ein freiheitliches Regime geschaffen werden müsse.

Nichts wird landläufig häufiger mit Burke in Verbindung gebracht als diese Schrift und sein publizistischer Kampf gegen die Französische Revolution. Über diese Frage spalteten sich die Whigs in eine radikale, die Französische Revolution bewundernde Mehrheit unter Charles James Fox und eine „konservative“ Minderheit mit dem Duke of Portland an der Spitze und Burke als Spiritus rector. Gleichwohl beschäftigte Burke in diesen Jahren etwas anderes noch mehr als die Französische Revolution. Den größten Teil seiner Energie investierte er darin, den Korruptionsprozess gegen den ehemaligen ersten Generalgouverneur von Bengalen Warren Hastings voranzutreiben – ohne Erfolg, denn Hastings wurde 1795 freigesprochen.

Härter als dieser Freispruch hatte Burke freilich ein Jahr zuvor der Tod seines Sohnes Richard getroffen. Ohne Erben sah Burke keinen Sinn mehr in dem Angebot König Georgs III., ihn zum Earl of Beaconsfield zu machen, akzeptierte aber stattdessen eine Pension, die ihn erstmals in seinem Leben von allen Geldsorgen befreite. Lange konnte er die Pension jedoch nicht genießen. Am 9. Juli 1797 starb Burke in Beaconsfield in der Grafschaft Buckingham­shire.

Burkes politisches Denken

Burke war nicht der „Vater“ des Konservatismus. Ebenso wenig war er aber ein Liberaler im Sinne des 19. oder gar des 20. Jahrhunderts. Den größten Teil seiner Karriere verbrachte Burke in einer Zeit, als Politik sich nicht an Ideologien orientierte. Das änderte sich erst 1789. Doch auch nach dem Ausbruch der Französischen Revolution wich Burke nie von seinem Weg ab, auf dem ihn zwei Dinge leiteten: erstens die uneingeschränkte Zustimmung zum Revolution Settlement von 1688/89, das heißt zur Parlamentssouveränität und zu einem System regulierter Freiheit; und zweitens die politische Tugend der Mäßigung.

Wer Burke verstehen will, darf nicht Mittel und Zweck verwechseln. Man sollte nicht versuchen, aus den in pathetischem Ton vorgetragenen Mahnungen in den Reflections eine Ideologie oder „konservative Werte“ abzuleiten. Die einzigen „Werte“ die Burke kannte, waren die Prinzipien der Whiggery, oder, wie er selbst sagte: die Prinzipien der „Old Whigs“. Sie zu verteidigen war der Zweck seines politischen Lebens. Erst dadurch erhielt seine Wertschätzung für die Tugend der Mäßigung ihren Sinn. Was man Burkes „Konservatismus“ nennen könnte, war nichts anderes als eine charakterliche Disposition, die Verpflichtung auf die politische Mäßigung. Sein oberstes Ziel war es, die politische Ordnung Großbritanniens mit ihren persönlichen und politischen Freiheiten zu bewahren, und zwar nicht durch Stillstand, sondern durch Reform.

Darin verdichtete sich seine konservative Disposition, also das Ideal der Mäßigung, als eine mittlere Haltung zwischen zwei Extremen, zwischen dem Ideal der Veränderung und dem Ideal der Beharrung. Burke nahm diese Haltung nicht erst anlässlich der Französischen Revolution ein. Tatsächlich lässt sich alles, was er in den Reflections zuspitzte, schon in seinen früheren Schriften finden. Sein konstitutionelles Ideal blieb dabei zeitlebens die englische Mischverfassung, in der sich aus seiner Sicht monarchische, aristokratische und demokratische Elemente zu einem gemäßigten Ganzen verbanden.

Dabei war ihm bewusst, dass die englische Verfassung wie alle von Menschen gemachten Dinge einem ständigen Wandel unterlag. Aber anders als der progressive Teil der Whigs wollte er diesen Wandel nicht beschleunigen oder gar selbst herbeiführen. Auch Burke glaubte an den Fortschritt, doch zweifelte er daran, dass jede Veränderung eine Verbesserung sei. Überdies befürchtete er, dass jeder Fortschritt seinen Preis habe. Und schließlich glaubte er, dass die Freiheiten, die die Individuen genossen, notwendigerweise begrenzt bleiben müssten, wenn sie erhalten werden sollten. Alles in allem ging es ihm, seinem Mäßigungsideal entsprechend, darum, die Reichweite von Politik an sich begrenzen.

Auch deshalb lehnte Burke abstrakte Theorien und Visionen ab. An die Stelle von Theorien setzte Burke die Tugend der Klugheit, die für ihn wie für Aristoteles „eine mit Überlegung […] verbundene wahre Disposition des Handelns“ war, „die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist.“ Anders als Aristoteles stellte Burke aber die Klugheit nicht auf eine Stufe mit der Mäßigung, sondern ordnete sie ihr als „the first of all virtues“ über. Die Klugheit wies den Weg zur Mäßigung, weil sie die Augen dafür öffnete, welche Zerstörungskraft in theoretischen Politikansätzen lag.

Mäßigung, Klugheit, Mitte und die Ablehnung von Theorien in der Politik – für Burke waren das die zentralen Tugenden und Prinzipien des Whiggismus. Für nachfolgende Generationen britischer Politiker, die einen Mittelweg zwischen den Extremen suchten, boten sie vielfältige Anknüpfungspunkte. Mal folgte die eine Seite Burkes Beispiel, mal die andere. Die Mehrheit der Tory-Partei des frühen 19. Jahrhunderts und, nach 1832, der Conservative Party hatte zunächst ebenso wenig für ihn übrig wie die radikaleren Kräfte bei den Whigs. Verehrt wurde Burke als „Old Whig“ vor allem an den mittleren Rändern beider politischen Lager, also von einer Schnittmenge aus konservativen Whigs beziehungsweise Liberalen und gemäßigten Tories beziehungsweise Konservativen. Burke war nicht der „Vater“ des Konservatismus; sein Denken war zu groß für eine einzige Parteitradition.

Literatur

Bourke, Richard, Empire and Revolution. The Political Life of Edmund Burke, Princeton/Oxford 2015.

Bromwich, David, The Intellectual Life of Edmund Burke. From the Sublime and Beautiful to American Independence, Cambridge, Mass./London 2014.

Levin, Yuval, The Great Debate. Edmund Burke, Thomas Paine, and the Birth of Right and Left, New York 2014.

Lock, F. P., Edmund Burke, Bd. I: 1730–1784; Bd. II: 1784–1797, Taschenbuchausg., Oxford/New York 2008 (erstmals 1998–2006).

Norman, Jesse, Edmund Burke. Philosopher, Politician, Prophet, London 2013.

Oppermann, Matthias, Triumph der Mitte. Die Mäßigung der „Old Whigs“ und der Aufstieg des britischen Liberalkonservatismus, 1750–1850, Berlin/Boston 2020.

Matthias Oppermann

PD Dr. Matthias Oppermann ist Stellvertretender Hauptabteilungsleiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Abteilungsleiter Zeitgeschichte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Außerdem lehrt er als Privatdozent Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.