Gerechtigkeit

Oxfordian Kissuth / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

Von Dagmar Schulze Heuling

Schon die Frage, was Gerechtigkeit ist, lässt sich auf unterschiedliche Weise verstehen. Zielt sie auf ein Ideal ab, nach dem Menschen streben sollten? Oder geht es darum, welches Maximum an Gerechtigkeit unter irdischen Bedingungen zu erreichen ist? Ebenso wenig ist klar, worauf Gerechtigkeit sich genau bezieht. Ist sie eine Charaktereigenschaft oder menschliche Tugend? Oder ist Gerechtigkeit der entscheidende Maßstab, nach dem eine Gesellschaft ihre Institutionen, also die Regeln, nach denen ihre Mitglieder miteinander umgehen, ausrichten soll?

Die eine richtige Theorie der Gerechtigkeit kann es folglich nicht geben. Die Vielzahl und Vielfalt existierender Gerechtigkeitstheorien bringt es jedoch mit sich, dass sich für nahezu jede gewünschte Position eine passende Theorie finden lässt, mit der diese Position dann gerechtfertigt werden kann. Anstatt Orientierung in komplizierten moralischen Angelegenheiten zu bieten, dient die politische Philosophie hier allzu oft als Feigenblatt für Intuitionismus oder Interessenpolitik.

Die allgemeinste Beschreibung von Gerechtigkeit besagt, dass jede Person das ihr Zustehende haben (bzw. bekommen) soll. Anders ausgedrückt: Die Rechte der Person sollen nicht verletzt und ihre Ansprüche erfüllt werden. Das klingt zunächst eingängig. Doch sogleich stellen sich Fragen: Welche Rechte und Ansprüche soll eine Person haben? Wie sind konfligierende Rechte oder Ansprüche zu behandeln?

Eine etwas feinere Unterteilung von Arten der Gerechtigkeit geht auf Aristoteles zurück. Er unterschied zwischen ausgleichender Gerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Diese Begriffe sind bis heute gebräuchlich, wenn auch keineswegs klar ist, worin die entsprechende Gerechtigkeit besteht.

Die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit ist bis heute im Strafrecht, aber auch beim Schadensersatz zu finden. Dazu ist es nicht nötig, sich in formale juristische Gefilde zu begeben. So bestrafen etwa Eltern ihre Kinder für Fehlverhalten, und neben dem erzieherischen Gehalt kann Strafe hier auch einen ideellen Ausgleich für Unrecht darstellen. In sozialen, rechtlichen und geschäftlichen Beziehungen aller Art sind Entschuldigungen und Kompensationen ein weit verbreiteter Mechanismus, um Fehlverhalten oder Unglück „auszubügeln“.

Tauschgerechtigkeit soll nach Aristoteles dafür sorgen, dass bei einem Tausch (oder Kauf) der Wert der getauschten Güter einander entspricht. Allerdings übersieht diese Maßgabe, dass Wert immer nur subjektiv bestimmt werden kann. Eine Reliquie kann für einen gläubigen Menschen einen sehr hohen Wert haben. Für andere dagegen ist sie wertlos. Einen objektiven gerechten Preis oder Tauschwert kann es also nicht geben.

Ein ähnliches Problem hat die Verteilungsgerechtigkeit. Wenn etwa öffentliche Ämter gemäß der jeweiligen Würdigkeit der Person zugeteilt werden sollen, dann stellt sich nicht nur die Frage danach, wer aus welchem Grund das Recht haben sollte, diese Zuteilung vorzunehmen, sondern auch, wie die Würdigkeit festzustellen ist. Hinzu tritt eine terminologische Schwierigkeit. Gegenwärtige Gerechtigkeitstheorien sprechen oft von Verteilungsgerechtigkeit, meinen aber nicht den Prozess der Verteilung, sondern eine bestimmte Allokation, die Ergebnis der Verteilung ist.

Nicht selten wird Gerechtigkeit auch mit (proportionaler) Gleichheit verknüpft. Diese Ansicht stützt sich jedoch weniger auf theoretische Gründe, als auf eine Intuition. Dabei wird Ungleichheit als per se moralisch falsch betrachtet, zumindest solange es im konkreten Fall keine Rechtfertigung für sie gibt. Übersehen wird dabei bisweilen, dass die Annahme, Ungleichheit sei moralisch problematisch, ebenfalls rechtfertigungsbedürftig ist. So hat John Rawls in seiner berühmten Theorie der Gerechtigkeit 1971 behauptet, dieser Sachverhalt sei offensichtlich. Inzwischen wird vermehrt die Ansicht vertreten, dass sich die generelle Vorzugswürdigkeit von Gleichheit daraus ergibt, dass wir unseren Mitmenschen insoweit Respekt schulden, als dass wir sie als Menschen anerkennen müssen.

Neben der schwachen Begründung – warum sollte z. B. Gleichheit automatisch Vorrang vor Bedürftigkeit genießen? – ist an der Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit problematisch, dass sie mit prozeduraler Gerechtigkeit unvereinbar ist. Robert Nozick hat das schon 1974 In seinem Buch „Anarchy, State, and Utopia“ für Verteilungsfragen aufgezeigt. Wenn viele Menschen einen berühmten Sportler sehen wollen und freiwillig Eintrittskarten für Sportveranstaltungen kaufen, dann führt das u. a. dazu, dass alle Zuschauerinnen und Zuschauer etwas weniger Geld haben, der Sportler aber viel hinzubekommt. Der Prozess, in dem das Geld die Hand gewechselt hat, ist nicht zu beanstanden. Das Publikum hat den Tag genossen, der Sportler wurde für seine Anstrengung reichlich entlohnt, alle haben freiwillig an diesem Prozess teilgenommen. Wie könnte man also, fragt Nozick, hier von Ungerechtigkeit sprechen?

Tatsächlich spricht viel dafür, Gerechtigkeit nicht nur in der Erfüllung substantieller Kriterien zu sehen, sondern der Verfahrensgerechtigkeit nicht weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Lösung des komplexen Rätsels Gerechtigkeit ist aber auch das nicht. Denn ebenso wie bei allen anderen Gerechtigkeitsvorstellungen ist zu fragen, worin genau Verfahrensgerechtigkeit besteht, warum das so ist, und wer warum über Verfahren entscheiden darf.

Diese Vagheit des Gerechtigkeitsbegriffs wird oft als frustrierend wahrgenommen. Wer wüsste nicht gerne in jeder Situation, was richtig und was falsch ist, wie gerechtes Verhalten und gerechte Lösungen aussehen? Doch eine unumstrittene, wissenschaftlich exakte Definition von Gerechtigkeit kann es nicht geben, und selbst ein weitgehender Konsens über ihren Inhalt ist äußerst unwahrscheinlich. Der Grund dafür ist allerdings ein schöner: die Unterschiedlichkeit der Menschen, ihre diversen Werte und Erfahrungen, Träume und Überzeugungen. Diese Individualität ist bewahrenswert, wenngleich sie Konfliktpotential birgt.

Literatur

Dagmar Schulze Heuling: Was Gerechtigkeit nicht ist. Baden-Baden 2015.

David Miller: Justice. The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Ausgabe Herbst 2017, https://plato.stanford.edu/archives/fall2017/entries/justice/

Dagmar Schulze Heuling

Dr. Dagmar Schulze Heuling ist Politikwissenschaftlerin. Sie forscht an der Universität Erfurt.