Tugendethik
Von Stefan Kosak
Die Ursprünge der Tugendethik liegen in der antiken Philosophie begründet. Denker wie Aristoteles oder die Vertreter der Stoa entwickelten in ihren ethischen Theorien eine Vorstellung vom guten Leben (eudaimonia), innerhalb dessen die Tugenden eine zentrale Rolle einnehmen. Diese Tradition ethischer Theoriebildung wurde von Denkern wie Thomas von Aquin bis in das Mittelalter hinein fortgeführt. Mit Beginn der Aufklärung verlor die Tugendethik zunehmend an Bedeutung. Einflussreiche Philosophen wie Immanuel Kant oder John Stuart Mill stellten die teleologische Ausrichtung der Tugendethik und die theologischen Begründungen des Mittelalters in Frage und legten ihrerseits neue Theorien vor, die auf eine rationale Rechtfertigung der moralischen Grundsätze abzielen. In den darauffolgenden Jahrhunderten bestimmten deontologische und konsequentialistische Ansätze weitgehend die ethischen Diskussionen.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die tugendethische Tradition infolge einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit den vorherrschenden ethischen Paradigmen wiederbelebt. Die Kritiken von Elizabeth Anscombe, Alasdair MacIntyre und Michael Stocker erwiesen sich hierbei als besonders einflussreich. Seither wurde eine Reihe von tugendethischen Konzeptionen vorgelegt. Stellvertretend hierfür stehen Julia Drivers konsequentialistische Version einer Tugendethik und Onora O’Neills deontologischer Tugendansatz. Von besonderer Bedeutung ist die neoaristotelische Strömung der Tugendethik, die zentrale Konzepte von Aristoteles‘ Ethik aufgreift und die Tugenden in den Mittelpunkt der ethischen Betrachtungen stellt. Wichtige Konzeptbestandteile dieser Strömung werden im Folgenden vorgestellt und aktuelle Diskussionspunkte genannt.
Tugenden als Handlungsdispositionen
Was sind die Tugenden? Bei den Tugenden handelt es sich um die ethisch vortrefflichen Charaktermerkmale einer Person. Einschlägige Beispiele hierfür sind Vorstellungen wie Mut, Großzügigkeit oder Gerechtigkeit, die in der moralischen Praxis fest verankert sind. Was zeichnet eine Person aus, die über diese Art von Charaktermerkmalen verfügt? Die Tugenden äußern sich zunächst in den moralischen Einstellungen einer Person. Wird eine tugendhafte Person etwa mit der misslichen Lage eines Mitmenschen konfrontiert, wird sie dessen Situation als bedauernswert einschätzen. Eine tugendhafte Person hat verinnerlicht, dass bestimmte Gesichtspunkte ethisch von Bedeutung sind – etwa die Hilfsbedürftigkeit eines Mitmenschen oder das Äußern der Wahrheit. Die Einstellungen einer tugendhaften Person äußern sich schließlich in deren Handeln. So wird eine tugendhafte Person ausgehend von ihrer positiven Einstellung gegenüber der Wahrheit eine ehrliche Antwort geben, wenn es darauf ankommt. Zusammenfassend ist eine tugendhafte Person dadurch charakterisiert, dass sie verlässlich und situationsübergreifend das Richtige aus den richtigen Gründen tut. Während dies die etablierte Vorstellung einer tugendhaften Person widerspiegelt, bestreitet etwa John Doris aus empirischer Perspektive, dass Personen tatsächlich über beständige Charaktermerkmale verfügen. Die anhaltende Diskussion hierüber wird unter dem Begriff des Situationismus geführt.
Tugenden und Emotionen
Aus theoretischer Perspektive zeichnet eine tugendhafte Person weiterhin aus, dass ihre Emotionen in Einklang mit ihren ethischen Einstellungen und Handlungen stehen. Eine Person kann zum Beispiel durchaus über die moralische Einsicht verfügen, dass sie einer anderen Person einen Teil ihres Besitzes überlassen sollte, wobei sie jedoch ihre eigenen Gefühle des Verlustes überwinden muss. Nach Aristoteles gilt es daher zwischen einer willensstarken Person, die in ihrem Handeln widerstrebende Emotionen überwinden muss, und einer gänzlich tugendhaften Person zu unterscheiden, deren Handlungsabsichten und Emotionen in Einklang miteinander stehen. Während die willensstarke Person durchaus das Richtige aus den richtigen Gründen tun kann, gelingt dies einer tugendhaften Person mühelos. Nach Julia Annas erfährt eine tugendhafte Person in ihrem ethischen Handeln daher eine gewisse Zufriedenheit. Die Tugenden weisen damit als Charaktermerkmale sowohl eine kognitive als auch eine affektive Seite auf.
Tugenden und Handlungsorientierung
Auf welche Weise können sich die Tugenden im Rahmen einer ethischen Theorie als handlungsleitend erweisen? Rosalind Hursthouse verweist diesbezüglich auf die tugendhafte Person als Vorbild für das eigene Handeln. Das Handeln einer tugendhaften Person gilt demnach als Maßstab für das moralisch angemessene und in diesem Sinne richtig Handeln. Eine tugendhafte Person zeichnet hierbei aus, dass sie großzügig, mutig und gerecht handelt. Die Tugenden weisen somit über die Beschreibung von Charakterzügen hinaus und stellen, vermittelt über das ethische Ideal der tugendhaften Person, eine Aufforderung für das eigene Handeln dar. Eine Anwendung der zunächst allgemeinen Tugendvorstellungen erscheint insofern möglich, da im täglichen Sprachgebrauch bereits ein gewisses Verständnis angelegt ist, auf welche Handlungssituationen sich die Tugenden beziehen. Die Bedeutung der Tugend der Ehrlichkeit ist etwa eng mit der Vorstellung von Wahrheit verbunden, während die Bedeutung von Mut an die Vorstellung von Situationen geknüpft ist, die mit einem Risiko behaftet sind. Nach Rosalind Hursthouse sind die Tugenden damit als zentrale ethische Orientierungsgrößen bestimmt. Christoph Halbig vertritt demgegenüber die Auffassung, dass eine ethische Theorie neben den Tugenden dennoch auf weitere evaluative Kategorien angewiesen ist.
Das Konzept der praktischen Vernunft
Die Tugenden kommen damit als ethische Orientierungsgrößen grundsätzlich in Betracht. In manchen Situationen gestaltet sich die Anwendung jedoch anspruchsvoll, da nicht unmittelbar ersichtlich ist, welche Handlung durch eine bestimmte Tugend gefordert ist beziehungsweise welche Tugenden überhaupt angesprochen sind. Hierfür bedarf es eines genaueren Verständnisses der Tugendbegriffe. Im Rahmen der Tugendethik kommt in diesem Zusammenhang das Konzept der praktischen Vernunft (phronesis) zum Tragen. Mithilfe der praktischen Vernunft gelangen wir zu einer Form von moralischem Wissen, das die spezifischeren Implikationen eines bestimmten Tugendbegriffs erkennen lässt. Die Erlangung dieses Wissens ist mit einigen Anstrengungen verbunden und bedarf zunehmender Lebenserfahrung. Das Konzept der praktischen Vernunft ist somit als Ideal zu begreifen, das unsere Bemühungen um das richtige moralische Handeln leitet. Aufgrund der vielschichtigen Anwendungskontexte der Tugendbegriffe, ist das Streben nach praktischer Vernunft ein fortlaufender Prozess. Gemäß Julia Annas bedarf es einer expliziten und bewussten Auseinandersetzung mit den moralischen Zusammenhängen, um praktische Vernunft zu erwerben. Julia Driver verweist demgegenüber auf die Möglichkeit einer intuitiven Aneignung moralischen Wissens.
Literatur
Annas, Julia, The Morality of Happiness, Oxford 1993.
Annas, Julia, Intelligent Virtues, Oxford 2011.
Anscombe, G.E.M., Modern Moral Philosophy, in: Philosophy, 33, 1958.
Driver, Julia, Uneasy Virtue, Cambridge 2001.
Foot, Philippa, Natural Goodness, Oxford 2001.
Hursthouse, Rosalind, On Virtue Ethics, Oxford 1999.
Halbig, Christoph, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013.
MacIntyre, Alasdair, After Virtue, London 1985.
Slote, Micheal, From Morality to Virtue, New York 1992.
O’Neill, Onora, Kants Virtues, in Crisp R. und Slote M., How Should One Live?, Oxford 1996.
Wolf, Ursula, Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“, Darmstadt 2013.