Christentum und freiheitlich-säkularer Staat

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Von Prof. Dr. Martin Rhonheimer

Vernunft und Aufklärung

Die Aufklärung ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Sie entstand nicht in einem voraussetzungslosen Raum und auch nicht als der große Befreiungsschlag gegen alles, was vor ihr war. Die Aufklärung war selbst nur Etappe in einem bruchlosen historischen Kontinuum. Dasselbe gilt auch für die Entstehung des liberalen, säkularen Rechtsstaates bzw. – falls man diese Bezeichnung vorzieht – des demokratischen Verfassungsstaates der Moderne. Um seine immer noch lebendigen Wurzeln zu finden, müssen wir mindestens bis ins Hochmittelalter und in mancher Hinsicht sogar noch weiter zurückgehen.

Kennzeichen der Aufklärung – im Sinne des Kantischen „sapere aude“– war die Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen und Autoritäten, auch die der christlichen Offenbarung, zu hinterfragen. Die Aufklärung wurzelte in dem Bewusstsein, dass es Rechtsgrundsätze gibt, die unabhängig vom Willen der Mächtigen und der religiösen Autoritäten gelten und der menschlichen Vernunfterkenntnis zugänglich sind. Institutionelle Voraussetzung der Aufklärung war eine Diskussionskultur als Trainingsfeld dieser Vernunft und der körperschaftlich geschützte Freiraum der Universität.  Der eigentlich liberale Impuls der Aufklärung schließlich war die Forderung nach einer definitiven Scheidung von Politik und Religion.

Der Nährboden der Aufklärung

Unleugbar ist all dies auf dem Boden des Christentums gewachsen. Wie der französische Historiker M. D. Fustel de Coulanges im Jahre 1864 schrieb, war das Christentum die erste Religion, die aus ihren heiligen Texten keine rechtliche und politische Ordnung ableitete. Das war eine epochale Neuheit. Im Geiste des Jesus-Wortes „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört“ übernahm die vom Christentum geprägte Zivilisation, was sie vorfand: die politische Ordnung des römischen Kaisertums und das römische Recht, das sie weiterentwickelte, kodifizierte und dem Mittelalter weitergab; und schließlich auch, wenngleich nicht ohne Schwanken und anfängliche Zweifel, die griechische Philosophie und Wissenschaft, aus der sich ihre Theologie zu nähren begann – ein enorm produktiver und folgenreicher Prozess der „Hellenisierung“, ohne den Bibel und Philosophie und, später, Glaube und Wissenschaft unversöhnliche Gegensätze, zumindest aber voneinander isolierte Parallelwelten geblieben wären.

Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius gegen Ende des Vierten Jahrhundert entsprach weniger genuin christlicher Mentalität, als vielmehr dem Geist römischer Zivilreligion. Sie ersetzte, im Dienste römischer Reichspolitik, das Pantheon der Vielgötterei durch den Monotheismus. Die Einheit des römischen Vielvölkerreiches sollte nun nicht mehr durch die Integration der Vielzahl der verschiedenen Volksgötter, sondern durch die Verehrung des einen Gottes sichergestellt werden. Dem christlichen Gründungscharisma war hingegen die Scheidung von Politik und Religion, von weltlicher und geistlicher Gewalt eigen. Das Christentum ist in dieser Hinsicht wesentlich dualistisch. Dieser genuin christliche Dualismus wurde – angesichts des Falles von Rom unter dem Ansturm der „Barbaren“ und gegen die nun als Relikt des Heidentums erkannte römische Reichstheologie – von Augustinus theologisch begründet: Religion und Kirche zielen nicht auf die Einheit und Größe des irdischen Staates, sondern auf die Errichtung des Gottesreiches im Innern des Menschen und damit auf sein ewiges Heil. In verhängnisvoller Uminterpretation und Abkehr vom Dualismus der Augustinischen Zweistaatenlehre wie auch von den daraus entspringenden Prinzipien der Zweigewaltenlehre von Papst Gelasius I (492-496) rechtfertigte dann aber der frühmittelalterliche sogenannte „politische Augustinismus“  die Sakralisierung der königlichen und kaiserlichen Macht, die – nun selbst als kirchliche Gewalt verstanden – die politische Instrumentalisierung und damit die Verweltlichung der Kirche im frühmittelalterlichen Reichkirchensystem vorantrieb.

Entscheidend für die Zukunft wurde deshalb der Kampf um die „Freiheit der Kirche“ seit dem Ende des 11. Jahrhunderts. Die Kirche schuf sich dafür selbst die intellektuellen Ressourcen – selbstverständlich nicht mit dem Ziel, den liberalen Rechtsstaat der Moderne zu begründen, sondern ihre Unabhängigkeit von der weltlichen Gewalt der Kaiser und Könige zu sichern und gleichzeitig im Namen von Frieden und Gerechtigkeit als spirituelle Ordnungsmacht zu walten. Nicht die unmittelbaren Absichten sind hier von Bedeutung, sondern die längerfristigen Folgen, auch wenn sie unbeabsichtigt waren.

Die christliche Naturrechtslehre

Die Kirche baute das römische Recht zu ihrem eigenen, dem Kirchenrecht um. Kirchenjuristen erneuerten und transformierten die altrömische Tradition des Naturrechts hin zu einem „ius naturale“, verstanden als „natürliche Kraft der Seele“ (Huguccio von Pisa), die Fähigkeit der natürlichen Vernunft, Recht und Unrecht zu unterscheiden, ein dem Menschen innewohnendes Licht der moralischen „Selbststeuerung“. An diesem Naturrecht maßen sie auch das Recht der Kirche: es hatte sich dem Naturrecht unterzuordnen. Das war eine klare Absage an die frühere Zeit des politischen Augustinismus, der das Naturrecht im kirchlichen Recht aufgehen ließ.

Ebenfalls aufgrund des Naturrechts reinigten die Kirchenjuristen des Hochmittelalters überkommenes germanisches Gewohnheitsrecht von diskriminierenden und antirationalen Elementen, was insbesondere der Stellung der Frau im Eherecht zugutekam. Die Naturrechtslehre schaffte die Voraussetzungen für den modernen Begriff der Menschenrechte als subjektive Rechte des Individuums.

Die Kirche etablierte Universitäten als akademische Lehr- und Forschungsräume und förderte damit trotz gelegentlicher kirchlicher Widerstände eine Naturphilosophie, aus der schließlich die moderne Naturwissenschaft entstand. Dies keineswegs im Konflikt mit der Kirche oder gar gegen sie – die Beziehung war vielmehr die einer kritischen Begleitung, nicht immer frei von Missverständnissen, aber ohne wirkliche Behinderung.

Die zivilisatorischen Leistungen des Christentums

In ihrem Buch „Eros der Freiheit“ vertritt die deutsche Politologin und liberale Verteidigerin der Aufklärung Ulrike Ackermann zu Recht die Auffassung: „Die christliche Theologie ging davon aus, dass es ein Geheimnis der Welt gibt, das entschleiert werden kann. Jedes Detail hat einen Sinn und eine Ordnung. Die Erkundung der Natur und Entdeckung ihrer Geheimnisse beweist letztlich, dass der Glaube vernünftig ist. Die nicht-christlichen Religionen sahen hingegen im Universum ein Mysterium und schlossen daraus, die Welt sei inkonsistent und unvorhersehbar. Sie fanden Weisheit und Glauben vor allem auf dem Weg der Meditation und mystischer Einsicht. Doch beides kann empirische Erkenntnis nicht vorantreiben. Die westliche Wissenschaft entstand aber gerade aus der enthusiastischen Überzeugung, dass der menschliche Intellekt die Geheimnisse der Natur entschlüsseln kann.“ Das Christentum und die Kulturschöpfungen der Kirche legten nicht nur die geistigen Grundlagen der modernen Wissenschaft; sie schufen – auf römischer Grundlage – auch jene europäische Rechtstradition, aus welcher, allerdings auf vielen Umwegen, der freiheitliche und säkulare Verfassungsstaat entstanden ist. Der Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer sieht die mittelalterliche Kirche als „Lehrmeisterin des weltlichen Rechts“. Unter Historikern unbestritten, war es die sogenannte Päpstliche Revolution des Hochmittelalters, die für die moderne Rechts- und Staatsentwicklung die Grundlagen schuf. Im bereits erwähnten Kampf um die „Freiheit der Kirche“ entsakralisierte sie König- und Kaisertum und erneuerte damit den Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt. Das 11. Jahrhundert war auch in dieser Hinsicht die Wende zur Neuzeit. Seit dem 13. Jahrhundert wurde auch die Aristotelische „Politik“ und damit die Ideen der Politik als verfassungs- und gesetzesgebundene Herrschaft über freie Bürger und der Garantie politischer Freiheit durch die Austauschbarkeit von Regierenden und Regierten zum zentralen Bestandteil der christlich-europäischen Politiktradition. Schließlich, so der Oxforder Historiker Larry Siedentop, hatte das Christentum „das Individuum erfunden“: Auf der zur Antike konträren Idee, alle Menschen seien gleich, nämlich vor Gott, und als Individuen selbst verantwortlich für ihr Heil, basiert die spätere Kultur der Freiheitsrechte des Individuums.

Staat und Politik ohne Kirche

Der Aufklärung war aber auch der fragwürdige Impetus eigen, Offenbarungsreligion und Kirchenglauben auszumerzen und damit ihre eigenen Voraussetzungen tilgen zu wollen. Das erst brachte ihr damals die Feindschaft der Kirche ein. Denn der freiheitliche säkulare Staat ist aus dem spannungsvollen Gegensatz von weltlicher Macht und Kirche als Institution des ewigen Heils entstanden. Die Freiheitlichkeit der Moderne war und ist immer dann in Gefahr, wenn sie sich an die Stelle der Kirche setzen, wenn ihrerseits die Politik Heilsverheißungen anbieten will. Die Staatsvergottung hat das 20. Jahrhundert in Form zweier Totalitarismen schmerzlich erfahren.

Einer sich auf die religionsfeindlichen Aspekte der Aufklärung berufenden Ächtung religiöser Heilsverheißungen als freiheitsfeindlich, also einem religions- und kirchenfeindlichen „Säkularismus als Staatsideologie“ (Heiner Bielefeldt), der alle Manifestationen von Religiosität im öffentlichen Raum zu unterbinden sucht, sind deshalb in gewisser Weise totalitäre Züge eigen. Er überhöht den Staat zum Garanten nicht der Religionsfreiheit, sondern der Freiheit bzw. Befreiung von der Religion und versucht unter Zuhilfenahme des staatlichen Gewaltmonopols die gesellschaftliche Öffentlichkeit und damit auch das bürgerliche Leben nach seinem „laizistischen“ Credo zu formen. Ein solcher, der Tradition der französischen „laïcité“ nahestehender geradezu militanter Säkularismus ist keineswegs eine neutrale Position und führt zur „Totalisierung des Politischen“, die letztlich eine säkular-freiheitliche politische Kultur untergräbt. Letztere lebt ja gerade vom Gegenüber heilsverheißender religiöser Institutionen. Sie bewahren den Staat – im Interesse der Freiheit – davor, selbst soziale oder politische Heilsversprechen anzubieten.

Weiterführende Literatur

Berman, Harold J. (1991), Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. Main.

Lübbe, Hermann (1986), Religion nach der Aufklärung, Graz, Wien, Köln.

Rhonheimer, Martin (2012), Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, Freiburg i. Br.

Rhonheimer, Martin (2017), Die Aufklärung fällt nicht vom Himmel, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.01.2017, S. 36.

Siedentop, Larry (2015), Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, Stuttgart.

Winkler, Heinrich August (2009), Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus: Martin Rhonheimer, Christentum, Islam und Europa. Welche Leitkultur braucht der säkulare Rechtsstaat? In: Internationale katholische Zeitschrift Communio 46 (2017), S. 123-139.

Martin Rhonheimer

Prof. Dr. Martin Rhonheimer lehrt als Professor für Ethik und Politische Philosophie an der Pontificia Università della Santa Croce in Rom. Er ist Gründer und Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy.