Nietzsche, Friedrich

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Von Nikodem Skrobisz

Es ist keine allzu große Übertreibung, die Philosophie der Postmoderne als ein bloßes Donnern aufzufassen, das dem Blitz Friedrich Nietzsche folgt. Der unzeitgemäße Visionär sprengte die Fundamente des westlichen Denkens und inspiriert mit seinen Aphorismen Generationen von Künstlern, Philosophen, Wissenschaftlern, Musikern und Schriftstellern zu neuen kulturellen Höhenflügen und mutigen Perspektiven. Doch zugleich ist er der wahrscheinlich am häufigsten missverstandene und politisch missbrauchte Denker der abendländischen Geschichte. Das Bild, welches heutzutage in den meisten Köpfen von Nietzsche existiert, ist daher oft ein verzerrtes und mystifiziertes. Hinter dem Mythos „Nietzsche“ entdeckt man jedoch einen brillanten Poeten und kompromisslosen Ikonoklasten, der wie kein Zweiter für die Freiheit des Denkens und des Individuums eintrat, und als Erster die Schrecken vorhersah, die Nihilismus, Etatismus und Kollektivismus über die Menschheit bringen.

Biographie

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde als Sohn des lutherischen Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche und der Pfarrerstochter Franziska Oehler am 15. Oktober 1844 in dem sächsischen Dorf Röcken geboren. Bereits als Schüler zeigte er eine ausgesprochene Hochbegabung. Er schrieb Gedichte, komponierte Musikstücke und fiel mit ausgezeichneten Noten auf, sodass die elitäre Landesschule Pforta ihn 1858 als Stipendiaten aufnahm. Dort lernte er nicht nur die eiserne Disziplin, mit der er später seine philosophischen Arbeiten anfertigte, sondern entwickelte auch erste eigene Ideen und eine Faszination für Richard Wagner. Es entfalteten sich in der Schulzeit damit bereits die zwei Gegensätze, die sein restliches Leben und sein gesamtes Werk bestimmen sollten: einerseits Nietzsches Leidenschaften für Musik, Literatur und Kunst (in seinen Worten: das „Dionysische“); anderseits sein Streben nach Rationalität und Selbstbeherrschung (das „Apollinische“).

Mit 20 Jahren nahm Nietzsche das Studium der klassischen Philologie und der evangelischen Theologie in Bonn auf. Bereits nach einem Semester brach er jedoch aufgrund seines Atheismus das Theologiestudium ab und folgte 1865 dem Philologie-Professor Friedrich Ritschl nach Leipzig. Noch bevor er einen Abschluss hatte, wurde Nietzsche mit nur 24 Jahren aufgrund seiner Brillanz als außerordentlicher Professor für Klassische Philologie an die Universität Basel berufen. Er nutzte den Umzug nach Basel, um die preußische Staatsbürgerschaft abzugeben und für den Rest seines Lebens staatenlos zu bleiben.

In Basel vertiefte Nietzsche die Freundschaft mit dem von ihm verehrten Komponisten Richard Wagner und widmete ihm 1872 sein erstes großes Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. In dem Buch arbeitete er die Grundlagen seiner Kunstpsychologie aus, wobei er das Begriffspaar des Dionysischen und des Apollinischen popularisierte. Damit brach der junge Professor mit den etablierten wissenschaftlichen Methoden der Philologie seiner Zeit, was ihm zwar viel Zuspruch aus Künstlerkreisen bescherte, aber bei seinen Fachkollegen auf Ablehnung stieß. Er beschäftigte sich in der Folge zunehmend mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen. Beeindruckt von Richard Wagners Werk und Arthur Schopenhauers Philosophie verfasste er mehrere weitere kulturkritische, unzeitgemäße Betrachtungen, die jedoch auf wenig Resonanz stießen.

Nach den Bayreuther Festspielen 1876 distanzierte sich Nietzsche von Richard Wagner aufgrund dessen Anbiedern an das Deutschtum und die antisemitische Bewegung. Auch von Schopenhauers Pessimismus sagte er sich in der Zeit los. Die Entfremdung von seinen beiden Idolen verarbeitete er in dem kulturkritischen Werk „Menschliches, Allzumenschliches“. Zeitgleich entwickelte der seit jeher kränkliche und sensible Denker immer mehr gesundheitlichen Probleme: Er übergab sich, erblindete kurzzeitig und litt an Migräneanfällen, die ihn zwangen, Kurorte aufzusuchen und lange Urlaube zu nehmen.

1879 ließ sich Nietzsche aufgrund der gesundheitlichen Schwierigkeiten endgültig von der Lehrtätigkeit pensionieren. Er reiste durch Norditalien auf der Suche nach klimatischen Bedingungen, die seine Migräneanfälle lindern könnten. Als freier Autor lebte er fortan von der geringen Pension und den Zuwendungen seiner Freunde.

1882 veröffentlichte er das Buch „Die fröhliche Wissenschaft“, in welchem er zum ersten Mal den Tod Gottes und das Aufkommen des Nihilismus thematisiert. Kurz darauf lernte er die Schriftstellerin Lou von Salomé kennen, verliebte sich in sie und machte ihr einen Heiratsantrag – genauso wie sein Freund Paul Rée. Beide Männer wurden abgewiesen. Es entstand stattdessen ein philosophisches Dreigespann mit dem Ziel, eine gemeinsame Arbeits- und Wohngemeinschaft zu gründen. Unter anderem durch Intrigen seitens Nietzsches Schwester, die diese Affäre als skandalös und verwerflich empfand, zerbrachen die Beziehungen von Nietzsche zu von Salomé und Rée. Von neuen Krankheitsschüben und Suizidgedanken geplagt, floh er in die vollständige Isolation nach Italien, wo er in zehn Tagen den ersten Teil seines poetischen Epos „Also sprach Zarathustra“ schrieb.

Nietzsches Bücher verkauften sich kaum und fanden keine Verleger mehr, weshalb er trotz chronischer Geldprobleme auf eigene Kosten zu drucken begann. Vom letzten und vierten Teil des „Also sprach Zarathustra“ konnte er lediglich sieben Exemplare an Freunde verteilen. Mit den überarbeiteten Neuauflagen älterer Werke und seinem 1886 erschienen Buch „Jenseits von Gut und Böse“, in welchem er den Perspektivismus, die Psychologie hinter Moralvorstellungen und seine Forderungen nach einer neuen Moral ausarbeitete, sah der Philosoph sein Werk vorerst als abgeschlossen.

1887 erfasste ihn jedoch ein neuer Schaffensimpuls. In kurzer Zeit schrieb und veröffentlichte er die Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“. Darin analysierte er, warum Herrschende und Beherrschte unterschiedliche Moralvorstellungen entwickeln und polemisierte gegen asketische Ideale und den zu der Zeit aufblühenden Nationalismus.

Das ganze folgende Jahr 1888 hindurch arbeitete Nietzsche an mehreren Werken simultan – „Der Fall Wagner“, „Götzen-Dämmerung“, „Der Antichrist“, „Ecce homo“ und „Nietzsche contra Wagner“ – und reiste ununterbrochen zwischen Sils Maria, Turin und Nizza hin und her. All seine körperlichen und geistigen Kräfte bündelte er in diesem Jahr und erreichte den Höhepunkt seines Schaffens, als ob er ahnte, dass es die letzte Gelegenheit dazu war. Die Arbeit trug die ersten Früchte: Obwohl er nach wie vor nur wenige Dutzend Anhänger hatte und seine Bücher sich kaum verkauften, begann an der Universität Kopenhagen der dänische Philosophieprofessor Georg Brandes vor vollen Hörsälen Nietzsches Ideen zu verbreiten.

Im Januar 1889 ging Nietzsches bewusstes Leben zu Ende. Ob es die maßlose Überarbeitung war, die kombiniert mit seinen körperlichen Erkrankungen dazu führte; ein Schlaganfall, eine Syphilis oder eine frontotemporalen Demenz, wie einige Wissenschaftler heute vermuten; oder ob er schlicht an seinen Widersprüchen zerbrach, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. Überliefert ist, dass Nietzsche zunehmend den Verstand zu verlieren schien, an Freunde größenwahnsinnige Briefe schickte und am 3. Januar 1889 in Turin einem Pferd weinend um den Hals fiel und zusammenbrach. Für die restlichen elf Jahre seiner Existenz verschwand Nietzsche in geistiger Umnachtung. Er wurde ein dementer Pflegefall, wodurch er nicht mehr mitbekam, wie er mit seinen letzten Büchern Weltruhm erlangte – und sich auch nicht wehren konnte, als sein Name und sein Werk missbraucht wurden. Er starb in Weimar am 25. August 1900.

Nietzsche und der Nationalsozialismus

Friedrich Nietzsche gilt heute vielen als Vordenker des Faschismus und als Hofphilosoph der Nazis. Tatsächlich betrieben die Nationalsozialisten einen beachtlichen Nietzsche-Kult, was allerdings im eklatanten Widerspruch zu seinem Denken steht.

Friedrich Nietzsche verachtete jegliche Form von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus. Für ihn waren sie die schlechten Ausdünstungen von kleinkarierten Leuten, die nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften hätten, um darauf stolz zu sein. Über die zum Kollektivismus neigende deutsche Mentalität, genauso wie über die damals einsetzende Angst vor der Durchmischung der Rassen und Völker äußerte sich der heimatlose Individualist Nietzsche in seinen Originalwerken spöttisch bis verächtlich. Er selbst bezeichnete sich gern als einen „guten Europäer“.

Er verachtete zwar – wie später die Faschisten auch – die Demokratie zutiefst, aber nicht, weil er wie diese etwa an einen Führer oder Volksgeist glaubte. Nietzsche war der Überzeugung, dass Mehrheiten und Politiker zu töricht wären, um über das Leben von Individuen zu bestimmen. Die Tatsache, dass die Nationalsozialisten und Faschisten durch Mehrheiten an die Macht kamen, gibt ihm posthum zumindest teilweise recht.

Und während die Faschisten und Nationalsozialisten eine Gesellschaftsordnung nach dem Motto „Alles im Staate, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat“ (Benito Mussolini 1925) erschaffen wollten, sah Nietzsche im Staat einen Götzen, von dem man sich befreien müsse. Wie er 1883 in seinem Buch „Also sprach Zarathustra“ schrieb:

Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.«  […] Lüge ist’s! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. […] der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er’s. […]  Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, […].“ (Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra: Kritische Studienausgabe, de Gruyter, S.61)

Wie konnte es also passieren, dass Nietzsche den Ruf hat der Philosoph der Nazis zu sein, obwohl seine Philosophie das genaue Gegenteil ihrer Ideologie zu sein scheint? Nietzsches Bewunderung für große Individuuen, seine bildgewaltige Schreibweise und die Verwendung von Begriffen wie Übermensch und Wille zur Macht bieten zwar Spielraum, um Formulierungen von ihm aus dem Kontext zu reißen und so für faschistoides Gedankengut zu verwenden. Der Hauptgrund für die Nazifizierung von Nietzsches Werk ist aber bei seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche zu finden.

1894 gründete sie das Nietzsche-Archiv in der Villa Silberblick in Weimar. Sorgfältig tilgte sie die Beweise für die Konflikte zwischen den Geschwistern und veröffentlichte 1895 den ersten Band einer von ihr geschriebenen Biographie über ihren Bruder, die ihn mystifizierte und sie selbst als liebevolle Schwester darstellte. Spätestens nach dem Tod ihrer Mutter 1897 hatte sie quasi ein Monopol auf Nietzsches Nachlass und gewährte niemanden vollständigen Zugang dazu. Schritt für Schritt instrumentalisierte sie den Ruhm und die Texte Nietzsches zugunsten ihres eigenen Vorteils und ihrer rechten Ansichten. Dabei machte sie nicht vor Fälschungen halt und ging juristisch gegen Freunde Nietzsches vor, wie Franz Overbeck und Carl Albrecht Bernoulli, die öffentlich und erfolglos ihre Verfälschungen anprangerten und versuchten in Basel eine Art Gegenarchiv aufzubauen. Ein Jahr nach Nietzsches Tod veröffentlichte seine Schwester das Buch „Der Wille zur Macht“, welches sie als Nietzsches magnus opum und erstes systematisches Werk vermarktete. So ein Buch hatte er aber niemals geschrieben. Es handelte sich dabei um eine Fälschung, die Elisabeth Förster-Nietzsche selber zusammenstellte und so manipulierte, dass sie damit ihr völkisches Weltbild propagieren konnte.

Erst in den sechziger Jahren analysierten die italienischen Forscher Giorgio Colli und Mazzino Montinari den Nachlass Nietzsches systematisch und bewiesen die Fälschungen und Unterschlagungen durch Elisabeth Förster-Nietzsche und das Archiv. Und erst 1980 erschien dann die von den beiden bereinigte 15-bändigen Studienausgabe der Texte Nietzsches auf Deutsch, die bis heute von der Forschung als einzige unverfälschte Ausgabe anerkannt wird. Dennoch bringen unterschiedliche Verlage weiterhin die alten Versionen von Nietzsches Werken und auch „Der Wille zur Macht“ in neuen Auflagen immer wieder auf den Markt.

Werk

Die Manipulation durch Elisabeth Förster-Nietzsche ist nicht das einzige Problem, wenn man sich mit Nietzsche beschäftigen will. Der große Charme und zugleich das große Hindernis an seinem Werk bestehen darin, dass er weder wie der typische Universitätsgelehrte schrieb noch seinem Denken das enge Korsett von Axiomen oder Systemen auferlegte. Nietzsche dachte zwar rasiermesserscharf wie ein Naturwissenschaftler und durchschaute die Trugschlüsse der menschlichen Psyche wie ein Psychologe – aber lebte die Philosophie wie eine Kunst und tanzte mit der Sprache wie es nur die größten Dichter vermögen. Statt wie andere Philosophen mit seitenlangen Deduktionen zu langweilen, goss er seine Erkenntnisse aphoristisch in sprachliche Juwelen, in poetische Bilder, Metaphern und Gedichte. Einzelne Aphorismen können daher bei Nietzsche in wenigen Worten tiefer in die Materie des menschlichen Seins dringen und länger im Kopf nachhallen, als sonst ganze Bücher. Seine Neigung, den Leser abwechselnd mit Polemik wie mit Hammerschlägen zu schocken, mit Pathos zu berauschen und dann wieder mit distanzierter Ironie zu necken, machen das Lesen von Nietzsche zusätzlich zu einem Abenteuer, das Verstehen aber oft zu einer Herausforderung.

Dieses lebendige Chaos in Nietzsches Werk ist jedoch bereits Teil seiner Philosophie. Nietzsche misstraute allen Systematikern und sah den Versuch, die Komplexität der Welt in Systeme zu fassen als einen Mangel an Rechtschaffenheit und eine Verleugnung des Dionysischen, des Chaotischen und Perspektivischen im Menschen. Die menschliche Vernunft ist unvollkommen, und daher jedes Denken von den subjektiven Vorurteilen der Perspektive des Philosophen geprägt. Es gibt kein objektives Wissen – nur subjektive Interpretationen. Je mehr Affekte man jedoch zu einer Sache zu Worte kommen lässt, also je tiefer man in seine eigene Psyche schaut und je pluralistischer man unterschiedliche Perspektiven einnimmt, desto eher kann man sich einer Objektivität zumindest annähern. Es gibt daher bei ihm keine zusammenhängende und allumfassende Theorie. Sein Werk ist stattdessen eine Symphonie an einzelnen Erkenntnissen, Ansichten, Theorien, Denkanstößen und Sprachmonumenten, und vor allem eins: Eine ungeheuerliche Forderung: „Werde, der du bist!“

Nietzsches Hauptthema ist nämlich der Nihilismus und seine Folgen. Während die modernen Denker der Aufklärung die Religion lediglich kritisiert hatten und den vermeintlichen Siegeszug der reinen Vernunft feierten, genügte die bloße Kritik Nietzsche nicht. Er dachte und dekonstruierte einige Schritte weiter und erkannte die schrecklichen Konsequenzen der Dekonstruktion der alten Narrative, was ihn zum ersten Denker der Postmoderne machte.

Mit seinem berühmten Ausspruch „Gott ist tot!“, diagnostiziert Nietzsche den Prozess der gewaltigen Modernisierungskrise, die die westliche Welt erfasst hat. Durch die Aufklärung und die Naturwissenschaften hat die Metaphysik, wofür die Idee Gottes stellvertretend steht, an Kraft verloren und stirbt. Dies führt allerdings nicht zwangsläufig zu der von den Aufklärern erhofften Erleuchtung des irrationalen Menschen.

Über Jahrtausende beriefen sich die Menschen in Fragen der Philosophie, Ethik und Politik immer als letzte Begründung auf Gott – entweder direkt auf den christlichen Gott oder eine philosophische Abstraktion von ihm wie das Naturrecht oder das Sakrale. Nun ist das nicht mehr möglich. Das ganze metaphysische und psychologische Konstrukt „Gott“ entleert sich und stirbt. Doch was ist der Mensch ohne das Sakrale, ohne seinen Gott, als ein blinder Funke Bewusstsein, eingesperrt in einem sterblichen Affenkörper auf einem bedeutungslosen Staubkorn inmitten eines gleichgültigen und unverständlichen Kosmos? Durch den Verlust der Geborgenheit des Glaubens, irrt die Menschheit ohne Richtschnur umher, was zu einem zerstörerischen Willen zum Nichts, zum Nihilismus führt. Alle objektive Werte, Gesellschaftsordnungen, Erkenntnisse, der Sinn des Lebens und der der Geschichte lösen sich auf, wodurch es keine absoluten Werte und Wahrheiten mehr gibt. Der metaphorische Tod Gottes ist daher kein Triumph bei Nietzsche, wie oft angenommen, sondern eine Tragödie:

„Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? / Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?[…] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! […] Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? […]“ (Nietzsche, Friedrich, Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft: Kritische Studienausgabe, de Gruyter, S.467)

Laut Nietzsche ist eine Rückkehr zum Christentum keine Lösung. Nicht nur ist das unmöglich – „Gott ist tot! Gott bleibt tot!“ – und das Fortführen der altruistischen, christlichen Moral ohne das Fundament der christlichen Religion selbst ein vergebliches Unterfangen. Für ihn ist das Christentum selbst Teil des ursprünglichen Problems. Nietzsche zufolge war und ist das Christentum selber, und damit die westliche Zivilisation, nämlich bereits systematisch von einem latenten Nihilismus geprägt. Er argumentiert, dass der Platonismus und das Christentum – welches selbst nur Platonismus für die Massen ist – aus Ressentiment und dem Willen zum Nichts geborene Moralvorstellungen sind. Sie haben die ursprünglichen Werte des Lebens umgekehrt und sind damit selbst latent nihilistisch. Durch ihr Propagieren einer metaphysischen, wahren Welt jenseits der menschlichen Sinne, und insbesondere durch die Idealisierung des Märtyrertums und die Dämonisierung von Stärke, Leidenschaft, Selbstverwirklichung und Sexualität im Christentum, verneinen sie das Leben im Diesseits und unterdrücken das Potential des Menschen, während sie zugleich Wahrheitsliebe heucheln. Dies rächt sich nun durch den Nihilismus, die Entwertung aller Werte.

Die alternativen Heilsversprechen, die sich als Ersatz für die Religion zu Nietzsches Zeit auszubreiten begannen – wie der Nationalismus, der Rationalismus, der Sozialismus, die Demokratie, der Kapitalismus, der Rassismus, der Egalitarismus, der Etatismus und der Liberalismus – waren für Nietzsche aber auch nur neue Götzen, die aus dem Schatten Gottes geformt sind. Sie tragen lediglich die falsche und lebensverneinende Metaphysik des Christentums weiter, indem sie statt den Himmel Gottes nun genauso unerreichbare weltliche Utopien versprechen, was zwangsläufig immer wieder zu einer Negation des Lebens und zu gewaltigen Kriegen und Krisen führen wird.

Als Antwort auf den Nihilismus forderte Nietzsche daher den Übermenschen als neues Ziel und Ideal des Menschen. Dabei ist der Übermensch aber nicht die arische Bestie, die die Nazis daraus zu machen versuchten. Nietzsche glaubte sogar, dass eine Durchmischung der Völker, wie sie die sich ankündigende Globalisierung bewirken würde, das Hervorbringen des Übermenschen beschleunigen könnte.

Der Übermensch ist für Nietzsche nämlich weniger eine Person, als das neue Ideal einer lebensbejahende Geisteshaltung, die sich über die Herde der konformistischen Menschen erhebt und den Nihilismus wirklich überwindet, statt ihn nur mit Metaphysik zu verschleiern. Eine Geisteshaltung, die die Fesseln der Traditionen, Religionen, Moralitäten, Jenseitsvorstellungen, der Eitelkeiten und Ideologien überwindet und ihr eigener Gesetzgeber wird. Eine Geisteshaltung, die in radikaler Freiheit lebt und in der sich der Wille zur Macht konkretisieren soll.

Mit dem Willen zur Macht ist aber auch nicht der Wille zur Herrschaft über andere gemeint. Im Gegenteil, es ist die Überwindung des nihilistischen Willens zum Nichts. Der Wille zur Macht ist der Wille zum Leben, und damit zur Selbstermächtigung, zur Liebe des eigenen Schicksals, zur Selbstüberwindung und zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit zu voller heroischen Größe. So bedingungslos wie die Sonne scheint, soll der Übermensch die Welt bereichern, weder Herrscher noch Beherrschter sein und nur nach selbstgeschaffenen Werten leben. Der Übermensch soll frei von den metaphysischen Fesseln und nihilistischer Moralvorstellungen die ganze Klaviatur des Menschmöglichen spielen und lebensbejahend verwirklichen.

Letztendlich ist die Konzeption des Übermenschen der ambitionierte Versuch Friedrich Nietzsches ein dionysisches, lebensbejahendes Ideal zu schaffen für eine atheistische, eine post-metaphysische Welt ohne Ideale. Der Nihilismus nach dem Tod Gottes lasse sich nämlich nur überwinden, indem wir selber zu Göttern, zu Übermenschen werden. Wie er selber anmerkte, steht dieser Versuch so sehr im Widerspruch zur menschlichen Natur und sich selbst, dass er möglicherweise niemals erreicht werden wird. Aber besser ein unerreichbares Ideal, als die falschen Ideale der Vergangenheit oder die nihilistische Ideallosigkeit.

Als größte Gefahr sah Nietzsche nämlich das sehr reale Aufkommen der schwachen, der letzten Menschen, einer leidenschaftslosen, nihilistischen Herde, die nichts mehr erreichen will, die technologieverliebt in der Konformität einer durchrationalisierten Welt dahinvegetiert, und die von Ressentiment erfüllt alles Erhabene zerstört. Sollte dieser nihilistische Menschentypus anstelle des Übermenschen durch die Krise des Nihilismus die Oberhand gewinnen, so wäre dies nach Nietzsche der tragische Endpunkt der Entwicklung der Menschheit – ein leerer, kulturloser Abgrund, in welchem die Zivilisation untergehen würde.

Literatur

Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, De Gruyter, 2009

Safranski, Rüdiger, Nietzsche: Biographie seines Denkens, Fischer, 2002

Zweig, Stefan, Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin. Kleist. Nietzsche, Anaconda Verlag, 2016

Nikodem Skrobisz

Nikodem Skrobisz, auch bekannt als Leveret Pale, ist als Journalist und Schriftsteller tätig und hat bereits mehrere Romane und Kurzgeschichten publiziert, die meist philosophische und gesellschaftliche Themen behandeln, wie Transhumanismus, Subkulturen, individuelle Freiheit und Sinnfindung. Seit Oktober 2017 ist er Vorstandsmitglied des Bundesverband junger Autoren und Autorinnen e.V.. Er studiert Kommunikationswissenschaften und Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Weitere Informationen auf seinem Blog: https://leveret-pale.de