Nationalismus

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Von Jason Kuznicki, mit freundlicher Genehmigung von libertarianism.org

Die Idee des Nationalismus hängt von einer klaren Definition des Wortes Nation ab, über die Soziologen und politische Philosophen oft nicht einer Meinung waren. Eine Nation ist weder eine Rasse noch eine Kultur, denn es gibt multirassische und multikulturelle Nationen, wie die Vereinigten Staaten. Eine Nation ist auch nicht gleichbedeutend mit einem bestimmten geographischen Gebiet, denn ein in Europa lebender Amerikaner wird sich wahrscheinlich noch immer als Mitglied der amerikanischen Nation fühlen und sich dort vielleicht sogar mehr seines Amerikanismus bewusst sein als zu Hause. Schließlich kann eine Nation auch nicht mit einer spezifischen Zugehörigkeit zu einem Staat gleichgesetzt werden, weil vielen nationalen Identitäten unabhängige Staaten fehlen, wie es heute bei den Kurden und Tibetern der Fall ist.

Die vielleicht beste Definition von Nation kommt vom Politologen Benedict Anderson, der eine Nation als „imaginäre Gemeinschaft“ von Menschen definiert, die Rasse, Sprache, Geographie und politische Unterschiede überwinden können, und die in gewisser Weise das Gefühl teilen, gemeinsam durch die Geschichte zu gehen. Andersons „imaginäre Gemeinschaft“ wird dadurch definiert, dass keineswegs alle Menschen Teil der Nation sind oder sein wollen. Eine Nation ist eine Gruppe, die durch die allgemeine Zustimmung derjenigen, die ihr angehören, definiert ist. Außerdem können die Mitglieder einer Nation durch einen allgemein akzeptierte Veränderungsprozess die Kriterien für die Mitgliedschaft im Laufe der Zeit bestimmen oder modifizieren. So können einige Nationalitäten zu manchen Zeiten und an manchen Orten auf Rasse, Sprache oder Religion beruhen. Andere können auf gemeinsamen politischen oder ethischen Werten beruhen oder auf gemeinsamen kulturellen Praktiken in Bezug auf Essen, Kleidung und Gewohnheiten. Eine Nation kann im Laufe der Zeit von einer Kombination von Kriterien zu einer anderen wechseln, und dieser Wandel kann gelegentlich recht radikal sein. Während im Mittelalter Leute aus Cornwall nicht als Mitglieder der englischen Nation galten, sind sie es heute in der Regel. Die französischen Protestanten existierten nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes offiziell nicht innerhalb der Nation Frankreich und wurden allgemein als Fremde angesehen, während die französische nationale Identität heute selbstverständlich durchaus die protestantische Religion umfasst.

Wie auch immer ihre Grenzen definiert werden: eine Nation wird auch immer als Ort der Souveränität verstanden, und hat auf diese Weise über lange Phasen der Geschichte funktioniert, insbesondere in der Neuzeit. Es wird gesagt, dass die Nationen das „Recht“ haben, ihre eigenen Grenzen zu sichern, das „Recht“, sich nach eigenem Ermessen zu regieren, und sogar – eher mystisch – das „Recht“, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, wie der Philosoph G. W. F. Hegel behauptete. Hegels äußerst einflussreiche Philosophie des Rechts argumentierte, dass eine Nation moralisch verpflichtet sei, ihr eigenes Schicksal durch die Schaffung eines Nationalstaates zu vollenden, also eines Staates, der alle Mitglieder einer Nation umfasst sowie das Gebiet, in dem diese Nation gewöhnlich siedelte. Hegel argumentierte, dass eine solche Einheit den kollektiven Willen der Nation verkörpere und daher berechtigt sei, in ihrem Namen zu handeln. Der Nationalstaat sei Ausdruck sowohl des nationalen Willens als auch des unpersönlichen Wirkens der Geschichte, und er verlange daher zwangsläufig Gehorsam von seinen Mitgliedern.

Der Nationalstaat, so Hegel, wird und soll um seiner eigenen Größe willen gegen andere Nationalstaaten kämpfen: „Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit … es ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist“. Oder in seinem üblichen und wolkigen Stil: „Dem Volke, dem solches Moment als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen.“ So ist Nationalismus letztlich der Glaube, dass unsere eigene imaginäre Gemeinschaft, unsere eigene Nation, einen besonderen Platz in der Geschichte einnimmt, und dass ein Staat gegründet – und gerüstet – werden muss, um diesen Platz zu erreichen. Der Nationalismus behauptet, dass die eigene Nation Rechte und Interessen hat, die denen anderer Nationen überlegen sind, und dass diese Rechte mit Gewalt durchgesetzt werden sollen.

Die Souveränität einer Nation – also eines Kollektivs – wirft tiefgreifende Probleme für Liberale auf, die das Individuum überwiegend als das einzig moralisch relevante Element der Gesellschaft betrachten und individuelle Rechte über Gruppenrechte oder Gruppenpflichten stellen. Sie neigen dazu, die Existenz kollektiver Rechte oder Pflichten nachdrücklich zu leugnen. So betrachten viele Liberale den Nationalismus als einen schlimmen Fluch für die Menschheit. Obwohl Liberale keineswegs immun gegen die Idee nationaler Identität sind und viele patriotische oder gar nationalistische Gefühle gegenüber verschiedenen Nationen hegen, erkennen die meisten doch an, dass Nationalismus eine zutiefst gefährliche Kraft sein kann und dass individuelle Rechte universell und nicht national sind.

Die verheerenden Folgen des Nationalismus reichen von vergleichsweise harmlosen Maßnahmen wie Zöllen gegen ausländische Produkte bis hin zum Völkermord, und sie sind viel zu umfangreich, um sie in einem Essay zusammenzufassen. Wenn die Mitglieder einer Nation ihre nationale Identität auf eine Religion zurückführen, dann ist es oft zu religiöser Verfolgung gekommen. Ebenso sind Verfolgungen aufgrund von Sprache, Lebensstil und Rasse immer wieder durch im Kern nationalistische Impulse entfacht worden. Da der Staat so oft als Inbegriff nationaler Größe angesehen wurde, waren staatliche Akteure besonders geneigt, die Grenzen ihrer Autorität zu ignorieren, wenn es um die Sache der Nation ging. Fast zwangsläufig waren Staaten die Hauptakteure nationalistisch begründeter Verfolgung.

Regierungen und Politiker haben auch viel dazu beigetragen, den Nationalismus zu fördern. Das liegt vielleicht daran, dass es in der Logik des Nationalismus schwierig wird, genau zu bestimmen, was den nationalen Willen ausmacht. Aber der Staat als gut organisierte und mit Machtmitteln ausgestattet Einheit, hat die besten Möglichkeiten solch einen Willen zu definieren. Wie Ludwig von Mises es ausdrückte: „Zu ihrem Bedauern stellen die Nationalsozialisten fest, dass es Deutsche gibt, die nicht deutsch genug denken … Folglich lehnten sie Mehrheitsentscheidungen als eindeutig undeutsch ab.“ Die einzige Möglichkeit, das eigene Deutschtum zu bestätigen, bestand also darin, nie etwas zu bestätigen, sondern nur auf eine staatliche Richtlinie zu warten.

Auch die Vereinigten Staaten waren nicht immun gegen nationalistische Gefühle. Die Alien and Sedition Acts, die 1798 verabschiedet wurden, sind frühe Beispiele: sie schränkten die im Land lebenden Ausländer stark ein. Um auch ein jüngerer Fall, der USA-PATRIOT Act von 2001, war eindeutig von dem Wunsch nach nationaler Selbsterhaltung motiviert, auch auf Kosten der Freiheit. Ähnliche Maßnahmen wurden fast immer dann ergriffen, wenn die Vereinigten Staaten in den Krieg gezogen sind. Zu dieser Liste könnten wir Zensur, die Einberufung zum Militärdienst und Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten aller Art hinzufügen – am bekanntesten ist die Internierung japanisch-amerikanischer Bürger während des Zweiten Weltkriegs.

Solche Maßnahmen werfen Fragen auf: Wenn die Vereinigten Staaten eine auf dem Prinzip der Freiheit gestaltete Nation ist, dann müsste ihre historische Bestimmung doch in der Ausweitung, nicht in der Beschränkung von Freiheit liegen. Gegner der Ausweitung staatlicher Gewalt haben auch oft so argumentiert. In dem Zusammenhang ist freilich anzumerken, dass nationales Selbstbewußtsein auch zum Freiheitskampf motivieren kann. So war etwa in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakie während des Kalten Krieges das Nationalgefühl besonders ausgeprägt, da die freiheitsliebenden Angehörigen dieser Nationen darum kämpften, die sowjetische Herrschaft abzuschütteln. Doch der Wunsch nach nationaler Größe ist ein kollektivistischer Wunsch, und die Gefahren selbst eines gut gemeinten Nationalismus können wohl nie ganz ausgeräumt werden.

Dieser Punkt wird deutlich durch ein zweifellos gut gemeintes Projekt zur Ausweitung nationaler Selbstbestimmung, den Vertrag von Versailles. Der Vertrag sollte den Ersten Weltkrieg beenden, der zweifellos ein nationalistisches Unterfangen war. Zum Schutz vor zukünftigen Kriegen versprach der Vertrag allen Völkern Europas nationale Selbstbestimmung. Darüber hinaus versuchte der Vertrag, die Nationen zu bestrafen, die den Ersten Weltkrieg verloren hatten – eine Ansicht, die mit der Ideologie des Nationalismus übereinstimmt, der kollektive Gewinner und Verlierer fordert. Schließlich forderte er einen Völkerbund, eine supranationale Regierungseinheit, die die Nation formell als politischen Akteur mit Rechten und Privilegien etabliert, die über individuelle Rechte hinausgehen. Historiker sind sich ziemlich einig, dass der Vertrag ein kolossaler Fehler war: Die Strafmaßnahmen gegen Deutschland verbitterten nur das deutsche Volk und verschärften den deutschen Nationalismus, was zum Aufstieg des Nationalsozialismus als der mörderischsten bisher bekannten nationalistischen politischen Bewegung führte. Angetrieben von dem Gefühl, dass sie eine Rechnung zu begleichen hatten, überrannten die Nazis bald alle zerbrechlichen neuen Nationalstaaten, die durch den Versailler Vertrag geschaffen wurden.

Der Nationalismus ist einer der massivsten Gegener des Liberalismus in der modernen Welt. Selbst jene Nationalismen, die sich auf Freiheit oder Frieden als Schlüssel zur nationalen Identität berufen, sind im ethischen Kollektivismus verwurzelt. Deshalb waren individualistische Philosophien dem Nationalismus gegenüber immer skeptisch, auch wenn es vereinzelt zu tatktischen Bündnissen kam.

Weiterführende Literatur

Acton, John: Nationality. In: Essays in the History of Liberty (Selected Writings Vol. 1). Indianapolis, 1985. [online] https://oll.libertyfund.org/titles/acton-the-history-of-freedom-and-other-essays [17.09.2020]

Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Berlin, 1998.

Kedourie, Elie: Nationalismus. München, 1971.

Minogue, Kenneth R.: Nationalism. London, 1967.

Mises, Ludwig v.: Nation, Staat und Wirtschaft. 1919.

Siemes, Annette / Schneider, Clemens: Offene Grenzen? Chancen und Herausforderungen der Migration. Berlin, 2014.

Jason Kuznicki

Dr. Jason Kuznicki ist Redakteur von Cato Books und Cato Unbound und war als stellvertretender Redakteur am Projekt der “Encyclopedia of Libertarianism” beteiligt. Er studierte an der Case Western Reserve University, der Ohio State University und promovierte an der Johns Hopkins University.