Bürokratie
Von Paul Dragos Aligica mit freundlicher Genehmigung von libertarianism.org
Obwohl der Begriff Bürokratie schon verwendet wurde, bevor Max Weber den Begriff ausarbeitete und seine Analyse des Phänomens darlegte, bilden seine Arbeit und seine Theorien den Rahmen für alle späteren Ansätze. Aus Webers Sicht handelt es sich bei bürokratischen Organisationen um eine Vereinigung von Funktionären, organisiert in einer pyramidenförmige Hierarchie, die sich durch die rationale, uniforme und unpersönliche Lenkung der Beziehung zwischen Untergebenen und Vorgesetzten auszeichnet. Diese Hierarchie basiert auf Spezialisierung und Arbeitsteilung, mit klaren und deutlichen Anweisungen und Anreizsystemen. Die Funktionäre werden nicht gewählt, und sie können sich ihr Amt nicht aneignen. Ein übertragener, weitverbreiteter Gebrauch der Bezeichnung hat die abwertende Bedeutung von Organisationspathologien, funktionalistischer Strenge, exzessivem Formalismus, Amtsmissbrauch und gar Korruption.
Die liberale Perspektive konzentriert sich hauptsächlich auf politische Bürokratie. Sie wählt Webers Bürokratiebegriff als Ausgangspunkt, vergrößert den Blickwinkel jedoch durch eine systemische und vergleichende Betrachtung. Der vergleichende Standpunkt betont die Tatsache, dass die tatsächliche Natur von Bürokratie und bürokratischem Management nur verstanden werden kann, wenn man sie mit gewinn- und marktorientiertem Management vergleicht. Wenn das ultimative Unternehmensziel Gewinn ist, ist die Methode, mit der Erfolg oder Misserfolg bewertet wird, klar: die Bewertung des Gewinns oder Verlusts. Das Funktionsprinzip ist eindeutig, und der Grad seiner Anwendung ist für das gesamte Unternehmen und für alle seine Teile messbar. Daher bestimmt es die Struktur und das Management der Organisation. Unternehmen, jedoch, die kein Profitziel haben und keine marktorientierten operativen Prinzipien anwenden können, müssen eine andere Methode finden, um sicherzustellen, dass sie ihre beabsichtigten Tätigkeiten angemessen erfüllen. Deswegen entwickeln diese Unternehmen Regeln, Verfahren sowie Überwachungs- und Kontrollsysteme. Das Ergebnis ist ein bürokratisches Management, dessen Funktionsprinzip die Einhaltung der von einer hierarchischen Behörde festgelegten detaillierten Regeln und Vorschriften ist. Folglich muss die Bürokratie als Antwort auf das Fehlen der Sanktionen der Gewinn- und Verlustrechnung verstanden werden.
Dieser Vergleich von bürokratischen und gewinnmaximierenden Organisationen zeigt nur einen Teil des Phänomens. Wenn wir den systemischen Aspekt von Bürokratien betrachten, erhalten wir ein noch umfassenderes Bild. Die Bürokratie ist untrennbar mit dem politischen System verbunden; sie ist Teil ihrer Struktur und Funktionsweise. Dementsprechend ist das Wachstum der Bürokratie das Symptom einer spezifischen Dynamik, die mit politischen Systemen einhergeht, und nicht etwas, das isoliert betrachtet werden kann. Die Hauptursache für die Bürokratisierung einer Gesellschaft ist die Übernahme wirtschaftlicher und sozialer Aufgaben durch die Regierung. Wie Ludwig von Mises es ausdrückte: „Der Schuldige ist nicht der Bürokrat, sondern das politische System.“ Beamte und bürokratische Strukturen sind nur die Werkzeuge oder Agenten, um „die von der Regierung erlangten Befugnisse auszuüben.“ Sobald diese Funktionen zentralisiert sind und von der Regierung und nicht von der Privatwirtschaft wahrgenommen werden sollen, steigt der Bedarf an bürokratischen Instrumenten. So steigt die Zahl der Bürokraten und Büros mit dem Umfang der der Regierung anvertrauten Entscheidungen.
Die Kombination von systemischen und vergleichenden Ansätzen der Bürokratie hat mehrere bemerkenswerte Konsequenzen. Eine Folge davon ist, dass eine Organisation solange nicht bürokratisch ist, wie sie sich nicht den Sanktionen des Marktes entziehen kann. Je weiter sie vom Markt entfernt ist, desto bürokratischer ist eine Organisation. Die zweite Folge ist, dass es einen großen Unterschied zwischen der Analyse der Bürokratie und einer Verurteilung der Bürokratie an sich gibt. Bürokratie und bürokratische Methoden sind alt und in jedem Regierungssystem mit einer gewissen Komplexität vorhanden. In einigen Fällen ist ein gewisses Maß an Bürokratie sogar unerlässlich. Das Problem ist nicht die Bürokratie als solche, sondern das Eindringen der Regierung in alle Bereiche des Privatlebens.
Selbst wenn sie die Existenz und in einigen Fällen sogar die Notwendigkeit einer bürokratischen Verwaltung akzeptieren würden, sehen Liberale ihre interne Funktionsweise eher pessimistisch. Die Public-Choice-Literatur, welche Gordon Tullock initiiert hat, ist in dieser Hinsicht ein zuverlässiger Leitfaden. Zunächst stellt die Literatur die Maßnahmen in Frage, durch die eine bürokratische Organisation fähig wird, ihre erklärten Ziele zu erreichen. Er stellt auch fest, dass es zu erheblichen Abweichungen zwischen dem kommt, was scheinbar die Funktion einer solchen Organisation ist, und dem, was tatsächlich passiert. Anreize und Betriebsabläufe sind selten so strukturiert, dass die individuellen Ziele so harmonieren, dass die explizit formulierten Unternehmensziele erreicht werden. Darüber hinaus können hierarchische Organisationen bestimmte Ziele überhaupt nicht erreicht. Je komplexer die Koordinierung der zur Erreichung des Ziels erforderlichen Maßnahmen ist, desto ineffizienter wird das bürokratische Instrument. Koordination erfordert Aufsichtsbeziehungen, und jede dieser Beziehungen bietet die Möglichkeit für Abweichungen. Darüber hinaus werden die Fehler einer Aufsichtsebene auf jeder nachfolgenden Ebene akkumuliert. Je mehr Koordinationsebenen notwendig sind, desto größer ist die Höhe eines kumulativen Fehlers. Daher ist eine solche Überwachung kostspielig und schwierig umzusetzen, und die Kosten für das Erreichen der Unternehmensziele werden immer höher. Am Ende wird die Aufsicht völlig unzureichend – und die Organisation ist völlig ineffizient.
Nichtsdestotrotz tendieren (komplexere) Bürokraten dazu, immer größere bürokratische Strukturen aufzubauen, die jedoch ihre Ziele nicht erreichen und gleichzeitig immer ineffizienter werden. So führt, wie Tullock es ausdrückte, „die Ineffizienz der überbordenden Bürokratie zu noch mehr Expansion und noch mehr Ineffizienz“, so dass „die meisten modernen staatlichen Hierarchien weit über ihre effizienten Organisationsgrenzen hinausgehen.” Schließlich ist die Art und Weise, wie Bürokraten in der bürokratischen Welt aufsteigen, strukturell gegen die Ziele der Organisation gerichtet: In den meisten Fällen sind die Anreize so gestaltet, dass zur Sicherstellung der Beförderung die Situation Maßnahmen erfordert, die der Erreichung der Ziele des Unternehmens zuwiderlaufen. Der Bürokrat wird niemals eine Vorgehensweise wählen, die dem eigenen Fortkommen abträglich ist.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bürokratische Organisationsformen tiefe strukturelle Probleme haben, ihre Aufgaben effektiv und effizient zu erfüllen. Es liegt an dezentralen Entscheidungsfindungsmethoden, wie z.B. dem Markt, solche Aufgaben zu erfüllen. Aus diesem Grund betrachtet die liberale Literatur die Analyse der Bürokratie als ein gutes Forschungsfeld für das Studium von Kapitalismus und Sozialismus als Formen der sozialen Organisation. Bei gründlicher Untersuchung der Probleme der Bürokratie wird man wahrscheinlich einige der grundlegendsten sozialen Mechanismen und Organisationspathologien entdecken, die sozialistische Utopien unpraktikabel machen.
Weiterführende Literatur
Mises, Ludwig von. Bureaucracy. New Rochelle, NY: Arlington House, 1969.
(Auf Deutsch: Die Bürokratie, aus dem Amerikanischen: Carsten und Jörg-Guido Hülsmann, 2. Auflage Sankt Augustin: Academia Verlag, 2004. Auch abrufbar auf http://docs.mises.de/Mises/Mises_Buerokratie.pdf.)
Niskanen, William A. Bureaucracy and Public Economics. Brookfield, VT: E. Elgar, 1994.
Tullock, Gordon. The Politics of Bureaucracy. Washington, DC: Public Affairs Press, 1965.
Weber, Max. The Theory of Social and Economic Organization. New York: Oxford University Press, 1964.
(Auf Deutsch: Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie. Mit textkritischen Erläuterungen hrsg. von Johannes Winckelmann, 5., rev. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2002)
Wilson, James Q. Bureaucracy: What Government Agencies Do and Why They Do It. New York: Basic Books, 2000.