Objektivismus

Michael Greene from Wikimedia Commons (CC-BY 2.0)

Von Johannes Kreft

Als Objektivismus wird die Philosophie der russisch-amerikanischen Autorin Ayn Rand bezeichnet. Sie ist dem Umfeld des Klassischen Liberalismus zuzuordnen und hatte einen prägenden Einfluss auf moderne radikalliberale und libertäre Denker und Bewegungen.

Fundamente

Der Objektivismus beruht auf verschiedenen axiomatischen Grundsätzen, welche von Rand in Atlas Shrugged (dt. Der Streik) und den darauffolgenden Werken formalisiert wurden. Sie unterteilt ihre Philosophie in fünf separate Kategorien, darunter (1) Metaphysik, (2) Epistemologie, (3) Ethik, (4) Politik und (5) Ästhetik. Über diese Bereiche soll hier ein kurzer und einführender Einblick geboten werden; ausgelassen wird dabei lediglich die Ästhetik, die zwar für Rands Lebenswerk eine enorme Bedeutung hat, jedoch weniger für ihre politische Philosophie.

Metaphysik

Die objektivistische Metaphysik befasst sich mit ontologischen Fragen nach dem Wesen der Realität. Sie definiert auch den spezifisch atheistischen Charakter von Rands Philosophie. Rands implizites Ziel war die Restauration der klassischen Naturrechtsphilosophie von Locke und den amerikanischen Gründervätern auf der Basis eines atheistischen Fundaments. Eine liberale Gesellschafts- und kapitalistische Wirtschaftsordnung ließe sich Rand zufolge weder durch spiritualistische Erkenntnis, noch durch einen materialistischen Nihilismus rechtfertigen. Stattdessen liege die Grundlage jener Legitimation in den Fakten und Implikationen einer objektiven und wahrnehmbaren Realität. Dieser Faktor der Objektivität ist das grundlegende Konzept ihrer Metaphysik. Zu diesem Zweck greift sie die berühmte aristotelische Formel A = A auf; die Affirmation einer den Gesetzen der Logik folgenden und somit widerspruchsfreien Realität. Diese Formel wirkt zwar unscheinbar, ist jedoch konstitutive Grundlage für eine Reihe von Rands Schlussfolgerungen in den Bereichen der Ethik und Politik. Auch ermöglicht sie die direkte Überleitung zur Kategorie der Epistemologie.

Epistemologie

Die Affirmation einer objektiven und somit widerspruchsfreien Realität impliziert unsere Befähigung zur Wahrnehmung. Denn A = A ist nicht nur die Feststellung eines universell gültigen Gesetzes, sondern auch die Bestätigung unserer kognitiven Fähigkeit, dieses Gesetz zu entdecken und zu interpretieren. Somit konstruiert Rand den epistemischen Grundsatz ihrer Philosophie vorsätzlich im Kontrast zu Platons Subjektivismus und dessen Gedankenkonstrukt von zwei separaten Welten; der Welt der Formen und der Welt der Sinneswahrnehmung. Die Welt der Sinneswahrnehmung ist ihr zufolge deckungsgleich mit der objektiven Welt; eine Unterscheidung zwischen Noumena und Phainomena lehnt sie bewusst ab. Im klassischen Ideenstreit zwischen Empiristen und Rationalisten steht sie somit eher auf der Seite der Empiristen. Doch auch von diesen unterscheidet sich Rand, obgleich zu einem geringeren Grad. Der Objektivismus ist eine idealistische, im Bereich der Politik gar utopisch anmutende Philosophie. Der stets konkretisierte und unideologische Denkansatz der Empiristen ist Rand nicht weniger fremd als die vom Boden der Realität abgehobenen Abstraktionen der Rationalisten.

Ethik

Die objektivistische Ethik hat den vermutlich größten Wiedererkennungswert in Ayn Rands Philosophie. Nicht nur sticht diese durch ihre offene Radikalität hervor, sondern auch durch die kunstvolle Darstellung der ihr zugrundeliegenden Prinzipien in den Leben der fiktiven Charaktere von Rands Romanen, insbesondere in Anthem, The Fountainhead und Atlas Shrugged. In diesen erzählt Rand die Geschichten von mutigen Individualisten, welche, vernunftgeleitet und durch ihre persönlichen Visionen getrieben, ihre Ziele verfolgen und Hindernisse überkommen – egal ob politische oder persönliche. Diese Charaktere versinnbildlichen ihr Ideal eines ethischen Egoismus; eine Ethik, in der das individuelle Glück an höchster Stelle steht und zum Maßstab aller Dinge wird.

Ausgehend von ihren metaphysischen Überzeugungen beruft sich Rand auf die existenzielle Notwendigkeit der Vernunft. Ein nüchterner Blick auf die Realität führt zu der Erkenntnis, dass Menschen vernunftbegabte Wesen sind. Doch nicht nur sind wir vernunftbegabte Wesen, sondern diese Vernunft ist charakteristisches Merkmal des Menschseins und somit unabdingbar für das Überleben; weder sind wir physisch sonderlich begabt, noch konkurrenzfähig. Der kompetitive Vorteil der Menschen ist unsere intellektuelle Kapazität zur Anpassung an die Umwelt bzw. zu der an unseren Bedürfnissen ausgerichteten Veränderung der Umwelt. Diese Fähigkeit ist Rand zufolge jedoch ein distinkt individualistisches Attribut; die Vernunft selbst ist ohne individuelle Gedanken- und Handlungsfreiheit unbrauchbar. Über diesen Weg kommt Rand zu dem Schluss, dass das individuelle Wohlbefinden der ultimative Zweck einer objektiven Ethik sein muss. Das Individuum soll zwecks seiner Gabe zur Vernunft stets Rezipient der Früchte der von ihm initiierten und verantworteten Handlungen sein; ob diese Handlungen eigenständig oder in marktwirtschaftlicher Kooperation vonstattengehen, spielt dabei keine Rolle.

Mit der Konzeption des individuellen Lebens als Selbstzweck steht Rand somit in der radikalliberalen Tradition. Eine besondere Bedeutung erfährt der Objektivismus hier in seiner strikten Ablehnung des Konzepts Altruismus. Dem Altruismus zufolge gelten solche Handlungen als moralisch, welche das eigene Wohlbefinden zugunsten des Wohlbefindens anderer einschränken bzw. opfern. Der Altruismus findet seine Verfechter sowohl in der christlichen Ethik als auch in den totalitären politischen Philosophien des Kommunismus, Sozialismus und Faschismus. Dass der Altruismus mit dem liberalen Prinzip des Individualismus hingegen unvereinbar ist, unternahm Rand zu beweisen. Ihr zufolge ist die altruistische Argumentation nicht imstande, der moralischen Handlung einen definitiven Zweck zuzuordnen. Steht das Glück anderer in der allgemeinen Hierarchie vor dem eigenen Glück, so ist auch dieses Glück an dem gleichen Maßstab zu messen; ergo ist zu rechtfertigen, mit welchem Recht jene andere Person an dem ihr erbrachten Glück festhält. Es folgt ein zirkuläres Chaos, demzufolge die individuelle Opfergabe die Quintessenz moralischen Handelns ist, die Annahme jener Opfergabe jedoch nicht. Praktisch hat dies zur Folge, dass moralische Handlungen nichts als Leid bringen, während das Glück stets eine inhärente Schuld mit sich bringt. Individuen sind demzufolge nicht mehr ein Zweck in eigener Sache, sondern verkommen zu Dienern des Leids und der Bedürfnisse anderer. Daraus entsteht eine hierarchische Klassengesellschaft, in der die kompetentesten und fähigsten Mitglieder der Gesellschaft zu Werkzeugen der Unfähigen und Unwilligen instrumentalisiert werden.

Ayn Rands Philosophie beinhaltet viele Elemente, welche eine ebenso intensive Auseinandersetzung rechtfertigen. Der Konflikt zwischen Egoismus und Altruismus ist dennoch zentral und nicht zuletzt deshalb Ursprung von einer von Vielzahl von akademischen Kritiken. Die dominante Rolle, welche Rand ihrer eigenen Ethik zuweist, wird im Schlussparagraphen ihres Essays The Objectivist Ethics ausgedrückt:

„It is philosophy that sets men’s goals and determines their course; it is only philosophy that can save them now. Today, the world is facing a choice: if civilization is to survive, it is the altruist morality that men have to reject.“

Politik

Die egoistische Ethik des Objektivismus hat direkte Implikationen für die Politik. Entsprechend ist fraglich, welche Politik den Bedürfnissen und Einschränkungen eines egoistisch handelnden Individuums gerecht wird. Hier ist vorerst zu vermerken, dass Rand sich explizit für die Notwendigkeit eines Staates ausspricht. Im Gegensatz zu libertären Anarchisten wie Spooner und Rothbard plädiert sie für einen liberalen Minimalstaat. Die politische Sphäre ist dabei Rand zufolge die Sphäre von individuellen Rechten. Genauer gesagt dienen individuelle Rechte als Bindeglied zwischen der Sphäre des Individuums und der Sphäre der Gesellschaft. Sie definieren die notwendigen Konditionen für ein geordnetes und freiheitliches Zusammenleben. Rand schreibt in The Nature of Government:

„Since man’s mind is the basic tool of survival, his means of gaining knowledge to guide his actions – the basic condition he requires is the freedom to think and to act according to his rational judgment. This does not mean that a man must live alone and that a desert island is the environment best suited to his needs. Men can derive enormous benefits from dealing with another. A social environment is conducive to their successful survival – but only on certain conditions.“

Der Schutz individueller Rechte, welcher in erster Linie den Schutz privaten Eigentums bedeutet, ist die zentrale Notwendigkeit für ein funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben. Diese Rechte nicht nur zu schützen, sondern auch zu garantieren, ist die Kernaufgabe der staatlichen Institution. Den Staat definiert Rand an dieser Stelle in der Tradition von Max Weber als Institution monopolisierten Zwangs in einem spezifischen geografischen Gebiet, also einem Instrument zur Durchsetzung von gesellschaftlichen Verhaltensregeln.

Im Objektivismus ist der Staat ebenso wenig ein notwendiges Übel wie er durch marktwirtschaftliche Institutionen austauschbar ist. Vielmehr ist er eine unersetzliche Präkondition für einen freien Markt und die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Märkte entstehen nur dann, wenn die Institution des Zwangs aus den zwischenmenschlichen Beziehungen erfolgreich verbannt wurde. Zu diesem Zweck soll jene Befähigung einzig und allein dem Staat überlassen bleiben; unter der Voraussetzung, dass dieser lediglich zur Verminderung des Zwangs von der eigenen Macht Gebrauch macht. Rand stellt sich somit dem modernen libertären Credo entgegen, demzufolge der anarchische Naturzustand ein wünschenswertes Ziel und Grundlage für einen funktionierenden freien Markt ist.

Ayn Rands Objektivismus ist eine auf der Vernunft basierende Philosophie des Liberalismus. Sie verbindet die antike Konzeption des Eudaimonismus und den berühmten Grundsatz der amerikanischen Gründerväter (pursuit of happiness) mit dem freiheitlichen Streben der Aufklärung. Dabei scheut sie auch nicht vor Radikalität zurück. Während ihre Philosophie in der Vergangenheit nur geringen Einfluss auf die akademische Welt hatte, so werden ihre Thesen vermehrt sowohl von Kritikern als auch von Verfechtern adressiert. Für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Objektivismus sollen die hier angegebenen Literaturempfehlungen dienen.

Weiterführende Literatur

Gotthelf, Allan / Salmieri, Gregory (2016): A Companion to Ayn Rand. Chichester: John Wiley & Sons.

Mayhew, Robert / Salmieri, Gregory (2019): Foundations of a Free Society. Reflections on Ayn Rand’s Political Philosophy. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.

Peikoff, Leonard (1993): Objectivism: The Philosophy of Ayn Rand. New York: Meridian.

Peikoff, Leonard (2012): Understanding Objectivism: A Guide to Learning Ayn Rand’s Philosophy. New York: New American Library.

Rand, Ayn (1979): Introduction to Objectivist Epistemology. New York: Meridian.

Rand, Ayn (1989): The Voice of Reason. Essays in Objectivist Thought. New York: Meridian.

Rand, Ayn (1998): The Ayn Rand Column. Written for the Los Angeles Times. Irvine: Ayn Rand Institute Press.

Rand, Ayn (1993): Der ewige Quell. München: Goldmann.

Rand, Ayn (2012): Der Streik. Leipzig: Michael John.

Rand, Ayn (2015): Die Tugend des Egoismus: Eine neue Auffassung des Egoismus. Jena: TvR.

Rand, Ayn (2016): Hymne. Tönisvorst: Juwelen.

Rand, Ayn (2017): Zurück in die Steinzeit: Die anti-industrielle Revolution. Düsseldorf: Lichtschlag.

Rand, Ayn (2017): Philosophie: Wer braucht das schon? Tönisvorst: Juwelen.

Johannes Kreft

Johannes Kreft studiert Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Trier