Olson, Mancur

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Von Kalle Kappner

Der Ökonom Mancur Lloyd Olson Jr. (*22. Januar 1932, Grand Forks (USA); †19. Februar 1998, College Park (USA)) lieferte zahlreiche wichtige wissenschaftliche Beiträge an der Schnittstelle von Soziologie, Ökonomik und Politikwissenschaften. Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehören seine Studien zur Aggregation von Individualinteressen in Kollektiven, die auf der Theorie rationaler Entscheidungen aufbauen, sowie seine Theorie der „institutionellen Sklerose“ und seine komparative Analyse der Entwicklungsfähigkeit von Anarchie, Diktatur und Demokratie.

Biographie

Mancur Olson wurde 1932 in Grand Forks (North Dakota) in eine Farmer-Familie geboren. Seine akademische Ausbildung erhielt er an der North Dakota State University, am University College in Oxford und in Harvard, wo er 1963 als Ökonom promovierte. Nach einer kurzen Station als Assistenzprofessor in Princeton war Olson ab 1967 als Regierungsberater tätig. 1969 zog es ihn zurück in die Wissenschaft, genauer an die Universität von Maryland, wo er bis zu seinem Tod 1998 lehrte und forschte.

Wenngleich Olson sich nicht nur gegenüber Kollektivismen und autoritären Ideologien kritisch äußerte, sondern auch den „naiven Laissez-Faire-Liberalismus“ ablehnte, steht seine politökonomische Analyse doch eindeutig in der klassisch-liberalen Tradition neben anderen wichtigen Denkern wie James Buchanan und Gordon Tullock. Ihn motivierte die Suche nach einer robusten politischen Verfassung – robust gegenüber der Tyrannei der Mehrheit und der Machthaber, aber auch gegenüber den Versuchen organisierter Interessengruppen, ihre Sonderinteressen auf Kosten der Allgemeinheit zu befriedigen. Das von Olson 1990 gegründete Center for Institutional Reform and the Informal Sector warb weltweit für entsprechende Reformen.

Die Logik des kollektiven Handelns

Wieso fällt kleinen Interessengruppen die Organisation und Durchsetzung politischen Einflusses trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit oft leichter als großen Gruppen? Wieso scheint beispielsweise der Wunsch weniger einheimischer Industrien nach Einfuhrzöllen politisch gewichtiger als der Wunsch der unzähligen Konsumenten nach freiem Handel zu Weltmarktpreisen? Wo ältere Theorien des Wirkens von Interessengruppen wie der Bentleysche Pluralismus oder der Marxismus keine zufriedenstellende Antwort liefern konnten, entwickelte Olson in seinem Buch „Logik des kollektiven Handelns“ (1965) eine neuartige, auf der Annahme individuell-rationalen Handels fußende Erklärung.

Interessengruppen – definiert als die Menge von Individuen mit einem spezifischen gemeinsamen Interesse – sind demnach zunächst latent, also unorganisiert. Damit sie politisch Einfluss nehmen können, müssen sie organisiert werden. Genau das fällt großen Gruppen schwer, da in ihnen auf jedes Individuum nur ein kleiner Teil des durch politische Einflussnahme erzielbaren Nutzens entfällt – entsprechend ist für jedes Gruppenmitglied der Anreiz hoch, als Trittbrettfahrer vom Kollektivgut der politischen Einflussnahme zu profitieren, ohne zu dessen Produktion beizutragen. Kleinen Gruppen, etwa speziellen Industrien oder Berufsverbänden macht das Trittbrettfahrerproblem nicht zu schaffen, da in ihnen jedes Gruppenmitglied einen ausreichend großen Anteil des Nutzens aus politischer Organisation bezieht.

Auf Basis seiner „Logik des kollektiven Handelns“ konnte Olson aufzeigen, weshalb große Interessengruppen oft mit selektiven Anreizen arbeiten müssen, um Gruppenmitglieder zur Partizipation zu animieren. Selektive Anreize sind Vorteile, die nur jenen zugutekommen, die sich an der Produktion des Kollektivguts beteiligen. Aus liberaler Perspektive ist seine Theorie auch normativ bedeutend: Demokratien neigen demnach nicht dazu, die verschiedenen Interessen aller Bürger auszutarieren und proportional zu deren Stärke in den politischen Prozess einzuspeisen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass kleine, wohlorganisierte Spezialinteressen die Politik dominieren. Demokratie braucht nicht nur den Schutz der Minderheiten vor der Mehrheit, sondern auch den Schutz der unorganisierten Mehrheit vor der Ausbeutung durch Minderheiten.

Aufstieg und Niedergang von Nationen

1982 wendete Olson seine Theorie der Interessengruppen in „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ an um den Zusammenhang zwischen dem Wirken von Interessengruppen und Wirtschaftswachstum zu untersuchen. Zentral ist dabei seine Theorie der „institutionellen Sklerose“: Je länger ein politisches System stabil bleibt, so Olson, desto mehr konzentrierte Interessengruppen bilden sich. Diese Gruppen nutzen Regulierungen, Steuern und andere politische Mechanismen, um ihren Mitgliedern Vorteile auf Kosten der unorganisierten Allgemeinheit zu verschaffen. Was individuell rational erscheint, äußert sich volkswirtschaftlich durch gehemmtes Wachstum bis hin zu Stagnation und Niedergang.

Olson lieferte eine interessante Neuinterpretation des deutschen Nachkriegswirtschaftswunders. Die Bundesrepublik sei, anders als etwa das Vereinigte Königreich, durch den Systemzusammenbruch vorübergehend von den die politischen Institutionen aushöhlenden Interessengruppen befreit worden. Um politische Systeme vor der Sklerose-Bildung zu bewahren, bedürfe es allerdings nicht regelmäßiger Kriege und anderer Katastrophen, sondern höchster Wertschätzung für ein System allgemeiner, abstrakter Regeln seitens der Bürger und Politiker.

Der Staat als „stationärer Bandit“

In „Macht und Wohlstand“ wandte sich Olson 2000 der vergleichenden Analyse von Anarchie, Diktatur und Demokratie hinsichtlich ihres ökonomischen Potenzials zu. In der Anarchie, so Olson, gelte das Recht des Stärkeren bzw. des „marodierenden Banditen“, der die Schwächeren ausraubt. Unter diesen Bedingungen bestünde für die Beraubten kein Anreiz zur Kapitalbildung. Erst wenn ein Bandit bzw. eine Banditengruppe als „stationärer Bandit“ sesshaft würde und sein Territorium gegen andere Räuber verteidige, könne es sich aus dessen Sicht lohnen, systematisch in die Produktivität der ihnen unterworfenen Schwächeren zu investieren – durch die Bereitstellung öffentlicher Güter und Rechtssicherheit. Unter diesen Bedingungen fangen auch die schwächeren Raubopfer an zu sparen und zu investieren, wohl wissend, dass der stationäre Bandit ihnen nur einen Teil der Früchte abnehmen wird.

Olson sieht die Genesis des Staates also im rationalen Kalkül von Räuberbanden und steht damit in der Tradition des deutschen Soziologen und Ludwig Erhard-Lehrers Franz Oppenheimer. Doch demokratisch verfasste Staaten sind aus seiner Sicht den Diktaturen hinsichtlich ihres Entwicklungspotenzials deutlich überlegen. Anders als in Diktaturen, so Olson, entscheidet in Demokratien eine Mehrheitskoalition, die sowohl Einkommen aus politischer Umverteilung (also „Raub“) als auch aus Marktaktivitäten erzielt. Da der Wert der Marktaktivitäten mit dem Ausmaß politischen Raubs abnimmt, wohne dem demokratisch verfassten Staat eine inhärente Begrenzung wachstumshemmender Umverteilung inne. Olsons Perspektive auf die Vorzüge der Demokratie gegenüber anarchisch oder autoritär verfassten Gesellschaften ist gerade für Liberale bedenkenswert, da sie sich gleichermaßen gegen die romantische Verklärung der Demokratie als auch gegen die Idealisierung des „Anarchokapitalismus“ oder der Erbmonarchie als vermeintlich freiheitlichere System wendet.

Weitere Lektüre

Olson, Mancur (1991): Aufstieg und Niedergang von Nationen, 2. Auflage, Mohr Siebeck.

Olson, Mancur (1993): Dictatorship, Democracy, and Development, in: The American Political Science Review 87 (3), S. 567-576 – eine komprimierte Darstellung Olsons Theorie des Staates.

Olson, Mancur und Satu Kähkönen (Hrsg.) (2000): The Not-So-Dismal Science. A Broader View of Economies and Societies, Oxford University Press – Olsons Plädoyer für die Einheit der Sozialwissenschaften.

Olson, Mancur (2003): Macht und Wohlstand, Mohr Siebeck.

Olson, Mancur (2004): Die Logik des kollektiven Handelns, 5. Auflage, Mohr Siebeck.

Kalle Kappner

Kalle Kappner ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität. Er ist Research-Fellow am Institute for Research in Economic and Fiscal Issues.