Wirtschaftswunder

Bundesarchiv, B 145 Bild-F038788-0006 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0

Wirtschaftswunder

Mit dem Begriff „Wirtschaftswunder“ bezeichneten die Zeitgenossen in der Bundesrepublik Deutschland den dynamischen, nahezu 25 Jahre ohne Stagnation und Schrumpfung anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung vor allem der 50er und frühen 60er Jahre. Nach der totalen Niederlage des NS-Regimes und der vollständigen Besetzung Deutschlands erlebte die Bevölkerung in der Nachkriegszeit zunächst eine jahrelange Mangelwirtschaft mit Hunger und zerrütteter Währung, mit Hamsterfahrten und Schwarzmärkten inmitten zerstörter Städte. Der rasante wirtschaftliche Aufschwung nach der Währungs- und Wirtschaftsreform im Sommer 1948, der vor allem nach der Durchbruchkrise der Sozialen Marktwirtschaft im Korea Krieg 1951 Fahrt aufnahm, kam für Millionen Menschen wie aus dem Nichts. Ein Wunder schien geschehen zu sein.

„Wirtschaft ohne Wunder“ lautet der Titel eines Sammelbandes aus dem Jahr 1953, in dem führende europäische Verfechter von Marktwirtschaft und freier Gesellschaft sich mit den Grundlagen und Prinzipien von Ordnungspolitik ihrer Zeit befassen. Luigi Einaudi, Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Ludwig Erhard, Jacques Rueff, Carlo Mötteli und viele andere zogen zum fünfjährigen Jubiläum der Währungs- und Wirtschaftsreform eine facettenreiche Zwischenbilanz. Eine zentrale Aussage formulierte  Albert Hunold im Vorwort: „… der offensichtliche Erfolg der Politik der Marktwirtschaft [ist] das folgerichtige Ergebnis der Entfesselung der individuellen Kräfte im Rahmen einer die Einzelinteressen auf das Gesamtinteresse ausrichtenden Wirtschaftsordnung“.

Die Zeit des „Wirtschaftswunders“ war geprägt durch hohes Wirtschaftswachstum mit pro Jahr rund 8% in den 50er und über 4% des BSP in den 60er Jahren, außerdem Vollbeschäftigung, vergleichsweise geringe Preissteigerungen, rasch und stetig steigende Reallöhne sowie wachsenden Wohlstand für breite Schichten. Eine Begleiterscheinung war die sogenannte Fresswelle, das Bedürfnis nach höherwertigem und besonders reichhaltigem Essen. Das daraus resultierende Übergewicht stieß auf breite Akzeptanz. Beispielhaft verkörperte Ludwig Erhard diesen Trend, dessen Zigarre zugleich als Sinnbild rauchender Schornsteine einer boomenden Industrie galt. Der steigende wirtschaftliche Wohlstand verband sich mit politischer Freiheit. Die Folge war soziale und politische Stabilität – ein Glücksfall für die junge Bundesrepublik Deutschland.

Die Wissenschaft hat die Periode des „Wirtschaftswunders“ zu Recht als Ausnahmeerscheinung charakterisiert: „Nie zuvor waren die Menschen in den westeuropäischen Ländern schneller wohlhabend geworden als in dem Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg“, urteilten die Wirtschaftshistoriker Gerold Ambrosius und Hartmut Kaelble. Die Realeinkommen und -löhne vervierfachten sich zwischen 1949 und 1973.

Als Erklärung des Wirtschaftsaufschwungs in den Westzonen und der sich anschließenden Boomphase des Bundesrepublik wurde eine Vielzahl von Ursachen herausgearbeitet, darunter drei Thesen:

  1. die klassische Sichtweise der Strukturbruchthese, die den Wechsel und die Einzigartigkeit der politischen und wirtschaftlichen Ordnung als Ursache benennt. Kurz gefasst: Die Ordnungspolitik der Neoliberalen mit der Sozialen Marktwirtschaft erklärt das „Wirtschaftswunder“.
  2. Die Trendhypothese rückt systemimmanente Rekonstruktionskräfte in einer Phase des so genannten „catching up“ in den Vordergrund. Kurz gefasst: Die Auf- und Nachholphase der Volkswirtschaft war durch Kriegswirtschaft und Zerstörungen unvermeidbar und lässt sich auch in anderen Wirtschaftsordnungen beobachten.
  3. Die Einbindung der Nachkriegsprosperität in einen allgemeinen westeuropäischen Rekonstruktions- und Aufholprozess nach dem Zweiten Weltkrieg zu der auch der Marshallplan und die Reintegration in die Weltwirtschaft beitrugen.

Keine der Ursachenbündel kann für sich reklamieren, ausschließlich die einzige Ursache identifiziert zu haben. Die Ordnungstheorie hat sich beispielsweise zu wenig mit den spezifischen, messbaren und kausal eindeutig verknüpften Ursachen von Wachstum und Konjunktur beschäftigt. Das gilt besonders mit Blick auf die lediglich wenige Jahre währende Phase der Sozialen Marktwirtschaft, die praktisch bereits in der zweiten Hälfte der 50er Jahre endet und von einer keynesianischen Wirtschaftspolitik sowie einer zunehmend umverteilenden Sozialpolitik verdrängt wird. Die Trendhypothese beschränkt sich fast ausschließlich auf eine Beobachtung von Korrelationen und nimmt den Wachstumsprozess als gegeben an. Der Marshallplan besaß vor allem psychologische Bedeutung.

Es liegt daher nahe, die Ursachen des westdeutschen Wirtschaftswunders in einem günstigen Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu sehen:

  • gute Startbedingungen (Relativierung der Kriegszerstörungen, qualifiziertes Humankapital) in Verbindung mit einer westeuropäischen Nachkriegsprosperität, die für eine weltweite Nachfrage nach Gütern der deutschen Wirtschaftsstruktur sorgte,
  • fundamentale ordnungspolitische Transformationen (Währungs- und Wirtschaftsreform) in Verbindung mit der Verbesserung der Angebotsbedingungen (Steuerpolitik, zurückhaltende Gewerkschaften, begrenzte Sozialpolitik) und
  • die Verbindung von einem in Deutschland besonders ausgeprägten Rekonstruktionspotenzial mit einem erfolgreichen Aufholprozess gegenüber den USA.
  • Beträchtliche Bedeutung besitzt zudem die Eingliederung der Westzonen/BRD in die Weltwirtschaft, einschließlich des Zugangs zu den Exportmärkten und der arbeitsteiligen Verflechtung mit westeuropäischen Industrieländern, an deren Beginn symbolisch die Starthilfe des Marshall-Plans steht.

In dieser Perspektive ergänzen sich die Erklärungen und schließen sich nicht aus. Akzeptiert man die Sichtweise, dass bis zum eigentlichen Beginn des „Wirtschaftswunders“ eine begrenzte Erholung durch das Ende von Krieg und NS-Kriegswirtschaft nach dem Zusammenbruch in Gang kam, so versperrt dies nicht die Möglichkeit einer entfesselten marktwirtschaftlichen Dynamik. Eine zentrale Rolle spielten dabei die ordnungspolitischen Reformen der Sozialen Marktwirtschaft in Verbindung mit der Währungsreform. Auch langfristig lässt sich dies anschaulich im Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR bzw. der französischen Zone sowie anhand des „Economic freedom index“ zeigen. Länder und Regionen mit einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung erzeugen deutlich mehr Wohlstand als solche, die stärker reguliert sind. Damit wird den ordnungspolitischen Weichenstellungen als Rahmenbedingungen und der wirtschaftlichen Freiheit eine stärkere Rolle als Initialzündung für die Entfaltung der Rekonstruktionskräfte und als notwendige Begleitbedingung zugemessen, während die Rekonstruktionskräfte mehr das Aufholwachstum beschreiben.

Mit der Erosion des Ordnungskonzepts der Sozialen Marktwirtschaft und der Verschlechterung der Angebotsbedingungen sowie mit dem Auslaufen der Rekonstruktionsbedingungen sind dazu passend die Abschwächung ökonomischer Prosperität und letztlich auch ein Einschwenken auf einen langfristigen, niedrigeren Wachstumstrend in Deutschland verbunden. Die qualitative Verbesserung – nicht die quantitative Vermehrung – der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, spielt weltweit eine wesentliche Rolle für das Wirtschaftswachstum. Die effiziente Kombination von technologischem und institutionellem Wandel ermöglicht Dynamik und Prosperität von Volkswirtschaften. Die Voraussetzung dafür ist wirtschaftliche Freiheit. Hinzu kommen gute Standortbedingungen.

Diese Erklärung passt zu der heute in Vergessenheit geratenen Erkenntnis der Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland. So schrieb Alfred Müller-Armack: „Der Begriff Soziale Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“ Und im Jahre 1974 erklärte Ludwig Erhard, die Epoche der Sozialen Marktwirtschaft sei längst beendet, die aktuelle Politik sehe er von seinen Vorstellungen von Freiheit und Selbstverantwortung weit entfernt. Zeitgleich endete die Phase des „Wirtschaftswunders“.

Weiterführende Literatur

Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle. Düsseldorf, 1957.

Prollius, Michael v.: Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945. Stuttgart, 2006.

Michael von Prollius

Dr. Michael von Prollius ist Ökonom. Er hat Betriebswirtschaftslehre und Geschichte in Bayreuth und Berlin studiert und hat an der FU Berlin in Geschichte promoviert.