Rothbard, Murray

Ludwig von Mises Institute (CC BY-SA 3.0)

Von Dr. Stefan Blankertz

Der US-amerikanische Ökonom, Historiker und Politologe Murray Newton Rothbard (1926-1995) ist der Begründer des modernen „Libertarismus“. Als Theoretiker sah er seine Aufgabe darin, eine stimmige Vorstellung von Freiheit sowohl in gesellschaftlicher als auch wirtschaftlicher Hinsicht auszuarbeiten, die er „Anarchokapitalismus“ (freie Marktwirtschaft ohne Staat) nannte. Als politischer Praktiker bestand sein erstes Ziel darin, den US-amerikanischen außenpolitischen Interventionismus zu bekämpfen: Das sei die Vorbedingung für eine friedlichere Welt.

Politische Biographie

1940er Jahre: Studium und erste politische Orientierung

Am 2. März 1926 wurde Murray Rothbard als Sohn jüdischer Immigranten (aus Polen resp. Russland) geboren. Er studierte ursprünglich Mathematik (Bachelor, 1945), wechselte dann zur Ökonomie, dem Fach, in welchem er 1956 zum PhD promovierte. Entgegen seinen Kommilitonen aus gutem Hause, die meist „links“ waren, orientierte Rothbard sich im spezifisch US-amerikanischen konservativen und „rechten“ Lager (das nach europäischen politischen Konventionen „liberal“ heißen müsste). In diesem Zusammenhang entdeckte er den aus Österreich vor den Nationalsozialisten in die USA geflohenen Ökonomen Ludwig von Mises, in dessen Theorie er die konsequenteste Verteidigung der wirtschaftlichen Freiheit sah.

1950er Jahre: Der Niedergang der „Alten (liberalen) Rechten“

Das konservativ-rechte Lager, dem so explizite Anarchisten wie Albert Jay Nock und Isabelle Paterson angehörten, befand sich über die 1950er Jahre hinweg allerdings in einem rasanten Wandel. Die Positionen des „der Staat soll so wenig wie möglich handeln, am besten gar nicht“, des außenpolitischen Isolationismus (Non-Interventionismus) und der Marktwirtschaft wurden zunehmend aufgeweicht. Diesen Wandel zeichnet Rothbard in seinem Buch „Der Verrat an der amerikanischen Rechten“ nach.

1960er und 1970er Jahre: Allianz mit der „Neuen Linken“

Der Niedergang der liberalen „Rechten“ veranlasste Rothbard, nach einer neuen politischen Heimat zu suchen, bzw. diese selber zu schaffen. Dafür nahm er bewusst einen Begriff auf, der auf der linken Seite des politischen Spektrums bereits etabliert war: „libertär“. Als „libertär“ bezeichneten sich linke Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten, die sich vom Etatismus der Bolschewisten, Fabianer und Sozialdemokraten abgrenzen wollten. Über die Gegnerschaft gegen Imperialismus und Polizeistaat sowie das Eintreten für individuelle Freiheit, die in der „Neue Linken“ während der 1960er Jahre verbreitet waren, ergaben sich nun bessere Möglichkeiten der Zusammenarbeit für Rothbard als mit den ausgelaugten Konservativen, die ihren „Frieden“ mit dem kriegführenden Staat gemacht hatten. Zudem schätzte er die Aufbruchstimmung gegenüber dem grundsätzlichen Pessimismus der Konservativen. In dieser Zeit engagierte sich Murray Rothbard vehement für die „Libertarian Party“ und deren Orientierung an einer prinzipientreuen Strategie der Freiheit, unter anderem durch die Gründung des „Libertarian Party Radical Caucus“.

1980er Jahre: Der Niedergang der „Neuen Linken“

Als 1980 Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt wurde, analysierte Rothbard dies als eine Katastrophe für die Sache der Freiheit: Mit den Lippenbekenntnissen zum freien Markt auf der einen und der interventionistischen Außenpolitik auf der anderen Seite würde er der aufkeimenden libertären Bewegung das Wasser abgraben. Allerdings machte die „Neue Linke“ in den 1980er Jahren die gleiche Entwicklung durch wie die „Alte Rechte“ in den 1950er Jahren: Sie orientierte sich ganz auf den Staat und verlor das Ideal der individuellen Selbstbestimmung aus den Augen. Schließlich gaben viele Linke auch noch den Non-Interventionismus (Antiimperialismus) auf.

1990er Jahre: Rückwendung zur „Rechten“

Dagegen entdeckte eine neue Rechte während der beginnenden 1990er Jahre den Non-Interventionismus wieder und Rothbard versuchte, hier Allianzen gegen den Krieg zu schmieden. Allerdings verbanden die neuen Rechten den außenpolitischen Non-Interventionismus mit einem wirtschaftlichen Interventionismus, so wie es die neuen Linken der 1960er Jahre auch getan hatten, sodass Rothbard wenig Freude an seinen Alliierten hatte. Aufgrund dieser letzten Allianzen Rothbards mit neuen Rechten wird seine Position heute vielfach einfach als „rechts“ abgetan, obgleich diese kurzen, kaum mehr als einige Monate dauernden Allianzen derjenigen mit der Linken gegenüber stehen, die zeitlich länger ausgedehnt waren und während derer er alle seine Bücher und die meisten seiner Essays geschrieben hat. Am 7. Januar 1995 starb Murray Rothbard.

Theorie des Anarchokapitalismus

Ausgangspunkt: Mises’ Liberalismus

Wie konnte Rothbard Ludwig von Mises, der sich ausdrücklich vom Anarchismus distanzierte, als Ausgangspunkt für seine Theorie des Anarchokapitalismus nehmen? Wenn, so Rothbards These, es keinen Platz für den Staat in der Wirtschaft gebe und die freie Wirtschaft in der Lage sei, alle Güter effektiv und bedürfnisgerecht zur Verfügung zu stellen, wie es aus der Theorie Ludwig von Mises’ folgt, dann ergibt sich politisch daraus, dass es keinen Platz für den Staat im gesellschaftlichen Leben allgemein geben könne. Dagegen beteuerte Mises selber in einigen wenigen Bemerkungen die Notwendigkeit des Staats. Aber hat er diese innerhalb der eigenen Auffassung vom Liberalismus tatsächlich begründet?

Der „Zwangs- und Unterdrückungsapparat“ des Staats, so Mises 1927 in seinem Essay „Liberalismus“, müsse „zum Liberalismus durch die Macht der einmütigen Volksüberzeugung gezwungen werden.“ Es ist das Buch, in welchem er die unglückliche Bemerkung machte, der italienische Faschismus habe die „europäische Gesittung“ gerettet; eine Einschätzung, die er 1944 revidierte, halbherzig. Und in welchem er zugleich das uneingeschränkte Sezessionsrecht forderte. Allein dies ist eine bemerkenswerte Konstellation, denn offensichtlich hat der Faschismus sich nie zu einem Sezessionsrecht bekannt. Mag es auch faschistische Kräfte geben, die in einer konkreten historischen oder geografischen Konstellation irgendeinen Landesteil abspalten wollen, entweder weil das Land von verschiedenen Völkern bewohnt wird oder weil sich ihr Einfluss nur regional erstreckt, niemals aber in der Weise, dass Sezession als Recht eines „jeden beliebigen Dorfes“ angesehen wird, wie Mises es konzipiert.

Realpolitisch also passte im „Liberalismus“-Buch von 1927 einiges nicht zusammen. Der italienische Faschismus war auch schon 1927 eine Bewegung der Staatsgewalt und als solche gedacht. Er ließ keinen Raum für die Formierung einer „einmütigen Volksüberzeugung“, die den Staat auf ein liberales Maß zurechtstutzen könnte. Die „einmütige Volksüberzeugung“, auf die der italienische Faschismus sich bezog, war die Existenz eines nicht durch liberale Rücksichtnahmen behinderten Staats. Und ganz gewiss duldete er keinerlei Sezessionsbestrebungen irgendeines Teils der Nation. 1944 rechnete Mises in „Omnipotent Government“ mit dem Totalitarismus ab. Zu den Konzepten des „totalen Staats“ zählte er neben dem sowjetrussischen Kommunismus und dem deutschen Nationalsozialismus nun auch den italienischen Faschismus. Allerdings kennzeichnete er diesen unter den dreien als einen weniger totalitären.

Der Staat an sich sei, so Mises 1944, „das nützlichste Instrument im menschlichen Streben nach Schaffung des Glücks für den Menschen“, falls er vor dem Ausarten bewahrt werden könne. Das „nützliche Instrument“ steht in der klassisch liberalen Konzeption für die Nachtwächterdienste: Der Staat macht nichts anderes, als Freiheit und Eigentum zu schützen. Aber wiederum bleibt Mises die Antworten schuldig, 1) warum der Staat über die Funktion als Nachtwächter hinauswächst und 2) wie er denn auf diese Funktion zu beschränken sei.

Weiterentwicklung zum Anarchokapitalismus

Murray Rothbard gab die fehlenden Antworten. Der Staat geht über die ihn vom Liberalismus zugewiesenen Funktion eines Nachtwächters hinaus, weil er gar nicht mit dem Ziel der Sicherung von Freiheit und Eigentum geschaffen wurde oder aufrechterhalten wird. „Lassen Sie uns überlegen, was die staatliche Verwaltung von allen anderen Organisationen in der Gesellschaft unterscheidet“, schreibt er in seinem programmatischen Aufruf „Für eine neue Freiheit“ 1973: „Zuerst erhält jede andere Gruppe ihr Einkommen durch freiwillige Zahlungen. […] Nur der Staat erlangt sein Einkommen durch Zwang und Gewalt. […] Ein zweiter Unterschied ist, dass, von Kriminellen abgesehen, nur der Staat seine Mittel dazu nutzen kann, gegen seine eigenen oder irgendwelche andere Menschen Gewalt anzuwenden.“ Beim Staat geht es immer um die Sicherung eines Vorteils auf Kosten der freien Vereinbarung zwischen Menschen, also auf Kosten der spontanen gesellschaftlichen Ordnung. An den Staat wendet man sich, weil er diese Vorteile verschaffen kann. Demnach gibt es ein ökonomisches Interesse an der Staatstätigkeit und ihrer Ausweitung. Dieses Interesse ist der Grund für die Konstitution des Staats und die Kraft hinter seiner Ausweitung. An diesem Punkt der Überlegungen wurde Murray Rothbard klar, dass ein alternativer Mechanismus gefunden werden müsse, um Freiheit und Eigentum zu schützen. Denn Rothbard war kein naiver Anarchist, der davon ausging, dass ohne Staat keine privaten Rechtsverletzungen zu beklagen wären. Bei radikalen Liberalen wie Gustave de Molinari und in der individualistischen Tradition des klassischen Anarchismus, etwa bei Benjamin Tucker, fand Rothbard die noch nicht weiter ausgebaute Vorstellung privater, nicht-monopolitischer Verteidigungs- und Rechtsorganisationen vor. Diese Vorstellungen griff er auf und entfaltete sie: Mit ihm ist die anarchistische Theorie gleichsam erwachsen geworden.  

Wenn die These Ludwig von Mises’ richtig ist, dass die Marktprozesse die optimalen Ergebnisse menschlicher Kooperation hervorzubringen in der Lage sind und dass sie nicht in Monopol- und Herrschaftsstrukturen münden, befindet sich Rothbards Lösung mehr mit ihr in Übereinstimmung als Mises’ sowieso schon vagen eigenen politischen Konzeptionen.

Literatur

Murray Rothbard, Das Schein-Geld-System (1964), Gräfeling 2000.

Murray Rothbard, Left and Right: The Prospects for Liberty (1965), http://mises.org/library/left-and-right-prospects-liberty

Murray Rothbard, Die SCHWARZE Revolution (1967), http://www.murray-rothbard-institut.de/texte/die-schwarze-revolution/

Murray Rothbard, Für eine neue Freiheit (1973/78), zwei Bände, Berlin 2015.

Murray Rothbard, Ethik der Freiheit (1982), St. Augustin 1999.

Murray Rothbard, The Complete Libertarian Forum 1969-1984, kostenlos als epub: http://mises.org/library/complete-libertarian-forum-1969-1984

Murray Rothbard, Der Verrat an der amerikanischen Rechten (posthum, entstanden 1973-1991), Grevenbroich 2017.

Stefan Blankertz

Dr. habil. Stefan Blankertz ist Schriftsteller. Er promovierte im Fach Soziologie an der Universität Münster und habilitierte sich in Erziehungswissenschaften an der Universität Wuppertal. Er gründete 2015 das Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik.