Frieden
Von Fabian Wendt, PhD
Der Begriff des Friedens
Frieden ist die stabile Abwesenheit von Krieg und Bürgerkrieg. Der Begriff des Friedens kann sich auf eine bestimmte geographische Region beziehen: Wenn keine militärischen Kampfhandlungen in der Region stattfinden, dann herrscht in ihr Frieden. Der Begriff des Friedens kann sich aber auch auf das Verhältnis zwischen zwei Ländern beziehen: Land X kann in Frieden mit Land Y sein, auch wenn es gleichzeitig einen Krieg gegen Land Z führt (und es muss diesen Krieg auch nicht in einer bestimmten geographischen Region führen). Krieg ist allerdings nur eine Form von Gewalt. Es ist deswegen naheliegend, den Friedensbegriff etwas zu erweitern und auch andere Formen gesellschaftlicher Gewalt für relevant zu erachten. Frieden meint dann die stabile Abwesenheit von gesellschaftlicher Gewalt, also z.B. auch die Abwesenheit von Terrorismus oder Ausschreitungen.
Manche lehnen eine solche rein „negative“ Bestimmung von Frieden als Abwesenheit von Krieg und Gewalt ab. Für sie ist Frieden ein Zustand der Harmonie und Ruhe in einem umfassenden Sinne. Ein solch „positiver“ Friedensbegriff ist manchmal religiös fundiert. Für den Kirchenlehrer und Philosophen Augustinus (354-430) etwa besteht Frieden in der rechten Ordnung der Teile eines Ganzen zueinander. So gibt es für ihn einen Frieden des Körpers ebenso wie einen Frieden der Seele und des Staats. Aber auch der norwegische Begründer der Friedens- und Konfliktforschung Johan Galtung (*1930) verteidigt einen umfassenden Begriff des Friedens, demgemäß letztlich jede soziale Ungerechtigkeit eine Form von („struktureller“) Gewalt und Unfrieden darstellt.
Problematisch ist allerdings, dass ein Gerechtigkeit umfassender Friedensbegriff die Konflikte zwischen Frieden und Gerechtigkeit aus dem Blick verliert, die es in unserer Welt zu geben scheint. Wenn zum Beispiel die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika nach der Zeit der Apartheid Mördern und Folterern, die ihre Verbrechen öffentlich eingestehen, Amnestie verspricht, so geschieht dies vor dem Hintergrund eines Konflikts zwischen Gerechtigkeitsforderungen einerseits und Erfordernissen des Friedens andererseits.
Was schafft Frieden?
Was schafft Frieden, verstanden als Abwesenheit von Krieg und Gewalt? Eine Antwort liegt in wirtschaftlichem Wohlstand und wirtschaftlichen Verflechtungen: „Wenn Waren nicht Grenzen überqueren, dann werden es Soldaten tun“, so der französische Ökonom Frédéric Bastiat (1801-1850). Wenn umgekehrt Länder zum beidseitigen Vorteil Handel treiben, werden sie diese Kooperation nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Auch die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union wurde ursprünglich als ein Friedensprojekt durch ökonomische Verflechtung gegründet.
Aber wirtschaftlicher Wohlstand ist wohl nicht der einzige Schlüssel zum Frieden. Viele kulturelle Faktoren spielen eine Rolle, und auch die politische Verfasstheit von Staaten ist relevant: Liberal-demokratisch verfasste Staaten führen nachweislich nur sehr selten Krieg gegeneinander. Dies kann unter anderem damit erklärt werden, dass eine demokratische Öffentlichkeit von solchen Kriegen nur schwer zu überzeugen ist und ihre Regierung kontrollieren kann. Die Idee, Frieden durch Demokratisierung zu erreichen, geht auf Immanuel Kant (1724-1804) zurück und wurde u.a. von Michael Doyle (*1948) aufgegriffen.
Politikwissenschaftler wie Ernst-Otto Czempiel (1927-2017) argumentieren darüber hinaus, dass soziale Gerechtigkeit ein Mittel der Friedenssicherung darstellt. Schon Jesaiah (32:17) war der Auffassung, dass Friede die „Frucht der Gerechtigkeit“ sein wird. Allerdings kann Gerechtigkeit nur dann ein Mittel der Friedenssicherung darstellen, wenn sich die Beteiligten einig darüber sind, was Gerechtigkeit ist. In einem Konflikt wie dem zwischen Israeliten und Palästinensern wird Frieden nur möglich sein, wenn die Beteiligten darauf verzichten, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen.
Der Wert des Friedens
Frieden ist so wertvoll, weil er eine Grundvoraussetzung für die Erreichbarkeit aller anderen Werte und insofern im Interesse aller ist. Für Thomas Hobbes (1588-1679) ist die Herstellung von Frieden entsprechend die zentrale Aufgabe des Staates. Nach Hobbes muss man sich den vorstaatlichen „Naturzustand“ als einen Krieg aller gegen alle vorstellen. In einem Vertrag würden die Menschen in diesem Szenario deswegen einen Staat einrichten, der mit seinem Schwert für Frieden sorgen soll.
In der zeitgenössischen politischen Philosophie gilt dagegen seit der 1971 erschienenen Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls (1921-2002) die Gerechtigkeit als der höchste politische Wert. In den letzten 15-20 Jahren hat sich in Teilen der Disziplin jedoch eine gewisse Unzufriedenheit mit dieser Fokussierung auf Gerechtigkeit eingestellt. Gerade angesichts tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten über Gerechtigkeit machen so verschiedene Philosophen wie John Gray (*1948) oder Chandran Kukathas (*1957) Frieden und das Erreichen von Modus Vivendi Arrangements als primäres (oder sogar einziges) Ziel politischen Handelns aus.
Pazifismus
Pazifisten wie Bertrand Russell (1872-1970) lehnen Krieg und Gewalt grundsätzlich ab. Es gibt allerdings radikalere und weniger radikale Varianten: Manche Pazifisten halten jegliche Gewalt – z.B. auch in Selbstverteidigung und gegenüber Tieren – für ausnahmslos verboten. Andere sehen den Pazifismus als rein politische Idee, die sich auf Krieg bezieht, nicht aber auf Selbstverteidigung oder Tiere, und sie gestehen zu, dass auch Kriege in wenigen Fällen gerechtfertigt sein können. Kritiker des Pazifismus halten es für widersprüchlich, wenn auch zur Verhinderung von Gewalt grundsätzlich keine Gewalt zugelassen werden soll. Eine pazifistische Haltung hat oft einen religiösen Hintergrund: Christliche Pazifisten sind u.a. von der Bergpredigt inspiriert, für Hindus, Jains und Buddhisten ist Gewaltlosigkeit ein basales Prinzip.
Literatur
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