Thompson, Hunter S.
Von Nikodem Skrobisz
Auf seiner ganz persönlichen Jagd nach Freiheit etablierte Hunter S. Thompson (1937 – 2005) sich als Ikone der Gegenkultur, was ihm zum verhängnisvollen Gefängnis wurde. Auf der Suche nach der Wahrheit verlor er sich im Gonzo-Wahnsinn und schuf im Dunst von Drogen, Zigarettenqualm und Wuttiraden auf korrupte Politiker brillante Werke der Autofiktion, die Journalismus und Literatur nachhaltig veränderten. Der Schriftsteller, Journalist, Psychonaut und politische Aktivist gehört wahrscheinlich zu den radikalsten, aber auch widersprüchlichsten und tragischsten Helden der individuellen Freiheit.
Biographie
“So we shall let the reader answer this question for himself: who is the happier man, he who has braved the storm of life and lived or he who has stayed securely on shore and merely existed?” Das ist eines der vielen berühmten Zitate, die von Hunter S. Thompson zirkulieren. Es stammt aus einem Essay über Sicherheit, den er bereits 1955 im Alter von 17 Jahren verfasste. Für ihn war die Antwort bereits damals klar: Sicherheit ist etwas für Spießbürger; nur ein Leben der Freiheit, des Abenteuers und des Risikos ist es wert, gelebt zu werden. Nach dieser Maxim sollte der am 18. Juli 1937 in Louisville, Kentucky, USA geborene Hunter Stockton Thompson tatsächlich nicht nur als junger Mann, sondern sein ganzes Leben lang leben.
Während Thompson die Highschool besuchte, war er Mitglied in der Athenaeum Literary Association, einem exklusiven Literaturclub, der vor allem aus Kindern der lokalen Oberschicht bestand. Als Sohn einer alleinerziehenden Alkoholikerin und eigentlich Außenseiter wurde Thompson aufgrund seines sprachlichen Talents in den elitären Kreis aufgenommen. Dort begann er seine schriftstellerische Entwicklung und schloss unter anderem die Freundschaft zu Porter Bibb, der später zum ersten Verleger des Magazins Rolling Stone wurde, für das Thompson dann auch Artikel verfasste. Aufgrund der Beihilfe zu einem Raubüberfall wurde Thompson allerdings kurz vor seinen Abschlussprüfungen zu 60 Tagen Gefängnis verurteilt und musste die High School ohne Abschluss verlassen.
Eine Woche nach seiner Entlassung bewarb er sich bei der US Airforce. Während er diente, besuchte er Abendschulen, um sich weiterzubilden, und schrieb sowohl für die Redaktionen der Airforce als auch für zivile Zeitungen. Letzteres tat er anonym, da es Soldaten verboten war, nebenbei beruflich tätig zu sein. Aufgrund seines anti-autoritären Charakters wurde er bereits nach zwei Jahren auf Drängen seiner Offiziere hin entlassen. Er zog nach New York und arbeitete für verschiedene Magazine, während er in seiner Freizeit die Romane der großen Schriftsteller Hemingway und Fitzgerald abtippte, um deren Schreibstil besser zu verstehen. Eine kurze Zeit arbeitete er dabei für die Time und The Middletown Daily Record, wurde aber bald aufgrund seines impulsiven Verhaltens entlassen.
Nach dem Scheitern in New York begannen Thompsons Wanderjahre als Journalist. Zuerst trieb es ihn für ein Jahr nach Puerto Rico, wo er für mehrere lokale Zeitungen arbeitete und nebenbei mehrere Kurzgeschichten und seinen ersten autobiographisch gefärbten Roman The Rum Diary schrieb, für den er jedoch keinen Verleger fand. 1961 reiste er per Anhalter durch die USA und verbrachte schließlich mehrere Monate in Big Sur an der kalifornischen Küste, wo er erstmals mit der Gegenkultur der Beatniks und Hippies in Berührung kam, mit Drogen experimentierte und über die dortige Bohème-Kultur schrieb. Die Jahre 1962 bis 1963 verbrachte er in Brasilien als Korrespondent und in den Redaktionen lokaler Zeitungen, bevor er wieder endgültig in die USA zurückkehrte und seine langjährige Freundin Sandra Dawn Conklin heiratete. 1964 zog die Familie mit ihrem neugeborenen Sohn Juan Fitzgerald Thompson nach Kalifornien. Hier vertiefte sich der junge Vater weiter in die Subkulturen Kaliforniens.
1965 schaffte Hunter S. Thompson seinen Durchbruch als Journalist mit einem Artikel für The Nation über die sich damals als Teil der Gegenkultur etablierende Motorradgang Hells Angels. Er erhielt mehrere Angebote, ein Buch über die Rocker zu schreiben, und verbrachte ein Jahr lang damit, an ihrer Seite durch Amerika zu fahren und in ihre Subkultur einzutauchen. 1966 erschien das Buch Hell’s Angels: The Strange and Terrible Saga of the Outlaw Motorcycle Gangs bei Random House, in dem Thompson die Motorrandgang von ihrem romantisierten Freigeister-Image entzauberte und als ein Haufen zwar freiheitsliebender, aber sozial inkompetenter und krimineller Vagabunden darstellte. Der daraufhin eskalierende Streit zwischen den Hells Angels und Thompson führte dazu, dass die Hells Angels eines ihrer Mitglieder in eine Talkshow schickten, um Thompson vor laufenden Kameras und Livepublikum zu konfrontieren. Die Kontroversen um das Buch und die begeisterten Rezensionen von Literaturkritikern machten Thompsons Debüt zu einem Bestseller und öffneten ihm als Journalisten die Tore zu den größten Zeitungen Amerikas.
Von dem Erfolg und plötzlichen Geldsegen motiviert zog Hunter S. Thompson mit seiner Familie nach Colorado und reiste für aufwendigere Reportagen durch die USA, wobei er immer mehr politische Themen abdeckte. Zunehmend kritisierte er die Hippie-Bewegung, welche seiner Beobachtung nach alle politischen und künstlerischen Ambitionen der Neuen Linken und der Beatniks verloren hatte und nur noch aus jungen Menschen bestand, die frei von jeglichen Idealen und Zielen dem Drogenkonsum hinterherjagten. Seine politische Radikalisierung und Prägung erlebte er aber erst im Sommer 1968 durch die Krawalle während der Democratic National Convention in Chicago. Aus dem Fenster seines Hotelzimmers beobachtete er entsetzt, wie Polizei und Nationalgarde mit brutaler Gewalt die Demonstrationen der Anti-Kriegs- und Bürgerrechts-Bewegungen niederschlugen. Mit der darauffolgenden Wahl des Republikaners Richard Nixon zum Präsidenten im Jahr 1969 fand auch er seinen politischen Erzrivalen, gegen den er die folgenden Jahre unerbittlich anschrieb und polemisierte.
1970 kandidierte Thompson als Sheriff des Pitkin Countys in Colorado in einer als Freak Power bezeichneten Kampagne zusammen mit dem kiffenden Anwalt und Rocker Joe Edwards, der für das Bürgermeisteramt kandidierte. Das Wahlprogramm der beiden bestand unter anderem aus der Entkriminalisierung von Drogen, der Entwaffnung der Polizei und der Umbenennung von Aspen in „Fat City“, um Investoren zu verschrecken, die den Namen als Marke missbrauchen wollten. Die Kampagne mobilisierte eine breite Unterstützung durch die „freaks“ der Region, allen voran Drogenkonsumenten, Rocker, Hippies und Bohemien, die sogar Werbespots für Thompson produzierten. Thompson trug bei seinen Wahlkampfauftritten lächerliche Perücken auf seiner Glatze und verspottete seine Kontrahenten. Die Stadtverwaltung erhielt daraufhin unter anderem einen Drohbrief, es würde zu Bombenanschlägen kommen, sollte Thompson tatsächlich gewählt werden. Als Gegenreaktion bewaffneten sich die Anhänger Thompsons und patrouillierten um sein Anwesen. Landesweites Aufsehen erregte die Kampagne nachdem Thompson darüber einen Artikel für den Rolling Stone mit dem Titel „The Battle of Aspen“ verfasst hatte. Edwards und Thompson verloren beide Wahlen – allerdings jeweils nur knapp. Die Freak Power Kampagne sollte dann auch sein einziger Versuch bleiben, ein politisches Amt zu erlangen.
1970 veröffentlichte Hunter S. Thompson einen berühmten Artikel über ein Pferderennen mit dem vielsagenden Titel The Kentucky Derby Is Decadent and Depraved. Der Artikel gilt bis heute als einer der besten in der Geschichte des Sportjournalismus – obwohl das Pferderennen an sich darin nur eine untergeordnete Rolle spielt und sich das ganze mehr wie eine Kurzgeschichte geschrieben ist, als wie ein klassischer Artikel. Thompson beschreibt darin in erster Linie in ehrlicher und berauschter Sprache das Spektakel drumherum. Dieser autofiktionale, radikal subjektive Stil der Berichterstattung bei dem der Autor Teil des Narratives wird, ist als „Gonzo“, eine Strömung des New Journalism, in die Geschichte eingegangen und prägte nachhaltig das Image Thompsons.
1971 erschien sein Meisterwerk, mit dem er in den Mainstream Einzug hielt und sich permanent in das kulturelle Gedächtnis brannte: der Gonzo-Schlüsselroman Fear and Loathing in Las Vegas: A Savage Journey to the Heart of the American Dream. Die Entstehung des Buchs ist dabei mindestens genauso psychedelisch wie sein Inhalt, in welchem Reportage und psychedelische Fiktion zu einem literarischen Rohrschachtest über den Verlust des American Dream kollabieren. Zuerst erschienenen Fragmente des Romans als fiktionalisierte Reportagen beim Rolling Stone über zwei Reisen, die Hunter S. Thompson im März und April 1971 mit seinem Freund, dem Bürgerrechtsaktivsten und Anwalt Oscar Zeta Acosta nach Las Vegas machte. Ziel der Trips war ursprünglich, Recherchen durchzuführen und Berichte zu verfassen. Doch die Reisen wurden stattdessen zu einem Exzess des experimentellen Drogenkonsums. Am Ende entstand über den Sommer 1971 daraus ein Roman über den Journalisten Raoule Duke und seinen Anwalt Dr. Gonzo, die in einem eindrucksvollen Drogenrausch durch Las Vegas stolpern, um zwischen kafkaesker Paranoia, Exzess und Wahnvorstellungen nach dem Amerikanischen Traum zu suchen. Zurückbleibt ein verzweifelter Nachruf auf die gescheiterten progressiven Bewegungen der 60er mit ihrem Versprechen der Gleichheit und Freiheit für alle Bürger Amerikas, die sich in dem reaktionären Amerika Nixons und einem ausgebrannten Eskapismus auflösten.
Die Veröffentlichung von Fear and Loathing in Las Vegas durch Random House im November 1971 katapultierte Hunter S. Thompson schlagartig in den Mainstream. Kritiker erklärten den Roman zu einem Klassiker und krönten ihn oft noch dazu zum wichtigsten Buch über die Gegenkultur überhaupt. Die New York Times bezeichnete es direkt als „by far the best book yet on the decade of dope“.
Doch der Ruhm kam zu einem hohen Preis. Viele Leser setzten Hunter S. Thompson mit seinem Alter Ego Raoul Duke gleich und erwarteten, dass er genauso ununterbrochen auf einem einzigen Drogentrip lebte. Fans bedrängten ihn, mit ihnen Drogen zu nehmen, und wenn er zu Lesungen oder Vorträgen ging, war sich Thompson bald nicht mehr sicher, ob die Menschen ihn oder Raoul Duke sehen wollten, und wer von beiden er eigentlich war. Unter dem Druck des Erfolgs und der öffentlichen Erwartungen an seine Person leidend, steigerte er seinen bereits zuvor hohen Drogenkonsum tatsächlich zu einem permanenten Exzess, den er auch in der Öffentlichkeit zur Schau stellte. Dieses Auftreten steigerte noch weiter seine Popularität, doch bald litt seine Arbeit als Journalist darunter.
Er schrieb ausführliche Reportagen über den Präsidentschafswahlkampf 1972, die sich vor allem von dem nüchternen und zurückhaltenden Ansatz der anderen Journalisten unterschieden, indem Thompson offen und ikonoklastisch die verlogene Kultur der Politikbetriebs angriff und Lobbyisten, Politiker und PR Leute mit Bezeichnungen wie „waterheads“, „scum“ und „fatcats“ belegte. Nachdem diese Reportagen gebündelt als Fear and Loathing on the Campaign Trail ‚72 veröffentlicht wurden, begann endgültig der graduelle Verfall des zunehmend vom Drogenkonsum ausgebrannten Schriftstellers. Er schrieb weiterhin Kolumnen, Artikel und Romane, allerdings erreichte er nie wieder die Brillanz, die er in den 60ern und frühen 70ern aufgebracht hatte. Als 1980 Fear and Loathing in Las Vegas das erste Mal unter dem Titel Where the Buffalo Roam verfilmt wurde und Hunter S. Thompsons Berühmtheit ein weiteres Mal explodierte, zog er sich aus der Öffentlichkeit weitestgehend zurück. Doch sein Einfluss auf die Popkultur wuchs weiterhin, insbesondere in Hollywood. Während der Dreharbeiten für die zweite Verfilmung von Fear and Loathing in Las Vegas 1998 lebte der Schauspieler Johnny Depp, der die Rolle des Raoul Duke verkörperte, bei Hunter S. Thompson im Keller, um ihn für seine Rolle kennenzulernen. Depp stieß dabei auf das Manuskript von Thompsons erstem Roman The Rum Diary und drängte ihn dazu, das Buch zu veröffentlichen. Es erschien 1998 und sollte eines seiner letzten Bücher sein. In den frühen 2000ern wandte sich Thompson wieder dem Sportjournalismus und politischen Kolumnen zu, mit denen er seine Karriere als Autor begonnen hatte.
Am 20. Februar 2005 schoss sich Hunter S. Thompson an seinem Schreibtisch mit einem Revolver in den Kopf und starb. Er hatte seinen Suizid lange angekündigt, da er den Zeitpunkt seines Todes selbst wählen wollte. In seinem Abschiedsbrief an seine zweite Frau schrieb er: „No More Games. No More Bombs. No More Walking. No More Fun. No More Swimming. 67. That is 17 years past 50. 17 more than I needed or wanted. Boring. I am always bitchy. No Fun–—for anybody. 67. You are getting greedy. Act your old age. Relax—–This won’t hurt.“ Auf seine Anweisung hin wurde seine Asche von seinem Freund Johnny Depp bei einer festlichen Trauerfeier mit einer Kanone in den Himmel geschossen. Die Kanone stand dabei auf einem 47 Meter hohen Denkmal in der Form der Gonzofaust, die einen Meskalinkaktus umklammert, und wurde von Feuerwerken und der Musik von Norman Greenbaums Spirit in the Sky and Bob Dylan’s Mr. Tambourine Man begleitet.
Politik und Vermächtnis
Obwohl Hunter S. Thompson vor allem als Ikone der Gegenkultur durch seine Romane und deren Verfilmungen berühmt geworden ist, war er auch ein professioneller Journalist mit einem tiefen Verständnis und Gefühl für das politische Zeitgeschehen, das er „von der Front“ kommentierte. Insbesondere berichtete er ausführlich über den Watergate-Skandal und als Auslandskorrespondent über die Invasion Amerikas in Grenada 1983, pflegte Freundschaften zu einflussreichen Politikern wie George McGovern und Jimmy Carter und machte sich mit aufsehenerregenden Artikeln und Kampagnen stark für Fragen der Gerechtigkeit.
Als Mitglied der NRA und Waffenenthusiast war er ein vehementer Vertreter des Rechts auf Waffenbesitz und Privatsphäre. Seine Romane und sein öffentliches Auftreten trugen maßgeblich dazu bei, Drogenkonsum zu entstigmatisieren, wenn auch die von ihm geforderte komplette Entkriminalisierung aller Drogen bis heute nicht Realität geworden ist.
Doch am einflussreichsten und bedeutendsten sind wohl seine scharfen Angriffe und ikonoklastischen Kritiken gegen jegliche Form von Korruption, Gewalt und Autorität. Es gibt wenige Journalisten in der Geschichte, die das Recht auf Pressefreiheit so sehr in Anspruch nahmen und zu einer so wirkungsvollen Waffe des Antiautoritarismus schärften. Über seinen Erzfeind schrieb er, Richard Nixon „represents that dark, venal and incurably violent side of the American character almost every other country in the world has learned to fear and despise.” Nach Nixons Tod 1994 verfasste Hunter S. Thompson für den Rolling Stone einen zweiseitigen Nachruf mit dem Titel „He was a crook“ und dem Untertitel: „Notes on the passing of an american monster … he was a liar and a quitter, and he should have been buried at sea … but he was, after all, the president“.
Wenn er auch kein politischer Theoretiker oder gar Politiker war, fanden seine persönlichen, radikal ehrlichen und unzensierten Einsichten und polemischen Analysen große Resonanz in der amerikanischen Gesellschaft. Und auch wenn Hunter S. Thompson vor allem durch seine Exzesse und Eskapaden und sein amoralisches Auftreten auffiel, war er wahrscheinlich einer der größten Moralisten der politischen Landschaft seiner Zeit. Der britische Schriftsteller Hari Kunzru schrieb dazu passend „the true voice of Thompson is revealed to be that of an American moralist … one who often makes himself ugly to expose the ugliness he sees around him.“.
Freiheit und Wahrheit, aber auch das Recht auf noch so verrückte Individualität und eine konsequent ehrliche Haltung liegen im Herzen des politischen Aktivismus und Vermächtnis von Hunter S. Thompson, welcher seine Ansichten gern mit dem Ausspruch zusammenfasste: „I hate to advocate drugs, alcohol, violence, or insanity to anyone, but they’ve always worked for me“.
Literatur
Thompson, Hunter, Königreich der Angst: Aus dem Leben des letzten amerikanischen Rebellen, Heyne Verlag 2006
Thompson, Hunter, Angst und Schrecken in Las Vegas, Heyne Verlag 2012
Thompson, Hunter, Gonzo Generation: Das Beste der Gonzo-Papers, Heyne Verlag 2012
Thompson, Hunter, The Rum Diary, Heyne Verlag 2005
Thompson, Hunter, Die Odyssee eines Outlaw Journalisten. Gonzo-Briefe 1958-1976, Heyne Verlag, 2015