Familie
Von Steven Horwitz mit freundlicher Genehmigung von libertarianism.org
Liberale Denker haben der gesellschaftlichen Institution Familie wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Da es dem Liberalismus hauptsächlich um politische Ideen geht, hat er die gerechte Beschränkung des Staates und das Potenzial freiwilliger Zusammenschlüsse zur Erreichung sozialer Ziele betont. Mit diesen Zusammenschlüssen sind hauptsächlich jene gemeint, die mit der Marktwirtschaft in Verbindung stehen. In den letzten ein bis zwei Jahrzehnten haben Liberale jedoch begonnen, der entscheidenden Rolle, die andere soziale Institutionen spielen, größere Aufmerksamkeit zu widmen, darunter auch die Familie. Im Zusammenhang mit der Familie treten für Liberale mindestens zwei Problemkomplexe auf: das Verhältnis zwischen Familie und Staat im Allgemeinen, und die Spannung zwischen elterlichen Rechten und den Rechten und Interessen der Kinder.
Wie im Fall vieler anderer Institutionen sehen Liberale keinen Sinn in Staatseingriffen zur Unterstützung der traditionellen Familie oder in der Mitgestaltung der zahlreichen Formen, die die moderne Familie annimmt. Historisch gesehen ist die Beziehung zwischen Familie und Staat stets eine enge gewesen. Nicht der Staat schuf die Institution der Familie; sie entstand vielmehr aus der prähistorischen Notwendigkeit, kooperative Netzwerke in Form größerer Verwandtschaften zu knüpfen, um unter großer Ressourcenknappheit überleben und hilflose Säuglinge schützen zu können. Allerdings hat der Staat großen Einfluss auf die Entwicklung der Familie in den letzten Jahrhunderten genommen; dies durch seine Versuche, bestimmte Formen der Familie zu unterstützen und andere zu unterbinden. Beispiele hierfür sind die sogenannten Coverture-Gesetze (die Fusionierung der Rechte der Frau mit der ihres Mannes im Rahmen der Heirat) und andere Einschränkungen der Frau als Individuum; Regulierungen, wer wen heiraten darf; sowie steuerliche Anreize, die Zweitverdiener bestrafen (in der Regel Frauen) oder größere Familien privilegieren.
Die Diskussion, in welchem Maß der Staat bestimmte Formen der Familie unterstützen oder unterbinden soll, hat die für die Liberalen wichtige grundsätzliche Frage überschattet: Wie kann sichergestellt werden, dass Familien in der Lage sind, ihre Funktionen zu erfüllen sowie sich innerhalb der ökonomischen, politischen und sozialen Sphäre weiterzuentwickeln? Familien sind in dieser Hinsicht Teil eines fortlaufenden, ungeplanten Prozesses der sozialen Evolution, angetrieben von den Bedürfnissen der Individuen und deren Einschätzungen, wie sie ihre jeweiligen Ziele am besten erreichen können. So, wie Liberale glauben, dass die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Individuen am besten durch die dezentral organisierten Handlungen von Millionen Individuen erfüllt werden können, die der Markt ermöglicht, so argumentieren sie auch, dass Familien denselben Grad an Freiheit benötigen, um sich zu entwickeln und die mit ihnen verbundenen Interessen zu befriedigen.
Der Staat, so das liberale Argument, solle sich nicht in die Angelegenheiten der Familie einmischen (außer zum Schutz individueller Rechte) und dort, wo er sich nicht zurückziehen kann, sich möglichst neutral gegenüber den verschiedenen Arten von Familie verhalten, die Menschen möglicherweise bilden wollen. Die gegenwärtige Debatte unter Liberalen über gleichgeschlechtliche Ehen illustriert diese beiden Prinzipien. Die ideale Lösung aus liberaler Perspektive wäre es, den Staat ganz aus Heiratsangelegenheiten herauszuhalten und Eheverträge als private Arrangements zu betrachten, wobei religiöse Institutionen die Freiheit haben sollten, jene Ehen abzusegnen, die sie für erstrebenswert halten. Die kontroversere Debatte unter Liberalen gibt es über die Frage, ob es eine angemessene „second-best-Lösung“ sei, dem Staat zu erlauben, gleichgeschlechtlichen Paaren eine Heiratserlaubnis zu garantieren. Für einige Liberale ist es in einer Welt, in der der Staat eng in den Heiratsprozess eingebunden ist, die Pflicht des Staates für Gleichberechtigung zu sorgen; daher sollte der Staat die Heirat zu gleichen Bedingungen für alle Erwachsenen erlauben. Für andere führt solch ein Versuch mittels des Staates Gleichbehandlung zu garantieren, jedoch zu einem noch weiteren Eindringen des Staates in Heiratsangelegenheiten; dies ist insbesondere kritikwürdig in Anbetracht der „first-best-Lösung“, den Staat ganz aus Heiratsangelegenheiten herauszuhalten.
Die Frage nach elterlichen Rechten ist für Liberale besonders verzwickt: Der Liberalismus legt einerseits nahe, dass Eltern das Recht haben sollten, für ihre Kinder Entscheidungen zu treffen: zumindest mehr als andere Erwachsene oder der Staat. […] Elterlichen Rechten Vorrang zu gewähren, wirft jedoch mehr Fragen auf als es beantwortet; weder sagt es uns an welchem Punkt Kinder „erwachsen genug“ sind, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, die den Präferenzen ihrer Eltern auch zuwiderlaufen können, noch wann die Ausübung elterlicher Rechte zu Missbrauch oder Vernachlässigung wird, die die Intervention des Staates oder anderer rechtfertigen würde.
Im Hinblick auf die erste Frage verteidigt eine Minderheit unter den Liberalen die Rechte von Kindern und denkt, Kinder sollten bereits in jüngerem Alter Entscheidungen treffen, als man es im Allgemeinen annimmt. Ob diese Sichtweise lediglich eine bestimmte Auffassung von Kindererziehung darstellt oder eine politische Aussage über die Rechte von Kindern ist, ist nicht immer klar. Liberale haben keine eindeutige Antwort auf das Problem der elterlichen Vernachlässigung. Doch insofern Liberale die Sichtweise unterstützen, dass die Beweislast für Eingriffe in private Angelegenheiten immer beim Staat liegt, nehmen sie auch an, dass Eltern grundsätzlich sowohl das Wissen als auch den Anreiz haben, das zu tun, was für ihre Kinder das Beste ist. Darüber hinaus muss der Staat zeigen, dass sein Eingreifen nicht lediglich eine noch schlimmere Situation bewirkt. So, wie die Existenz von Unvollkommenheiten auf dem Markt nicht ipso facto bedeutet, dass staatliche Eingriffe die Situation verbessern werden, ist auch nicht gesagt, dass durch Interventionen in eine problematische Familie – besonders, wenn die Kinder aus dem Elternhaus entfernt werden – automatisch das Leben der Kinder verbessert wird. Es sollte jedoch auch klar sein, dass das Verlangen nach „familiärer Privatsphäre“ (im Gegensatz zu „elterlichen Rechten“), die es Männern in früherer Zeit gestattete, Gewalt bis hin zu Vergewaltigung als Mittel zu verwenden, um ihre Frauen zu „kontrollieren“, im scharfen Gegensatz zum Liberalismus steht, insofern kein vernünftiges Verständnis von einem Ehevertrag das liberale Verbot, physische Gewalt (oder ihre Androhung) gegen andere einzusetzen, außer Kraft setzen kann.
Der Liberalismus basiert auf der freien und freiwilligen Interaktion und Kooperation zwischen Erwachsenen. Diese Sichtweise wird jedoch durch die Frage verkompliziert, was „Konsens“ und „Erwachsensein“ ausmacht: diese Konzepte werden durch die Anwesenheit von Kindern und die schweigenden Übereinkünfte, die familiäre Beziehungen kennzeichnen, herausgefordert. Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten, und das Thema Familie bleibt weiterhin Ort andauernder Debatten. Nichtsdestotrotz kann zusammengefasst werden, dass für Liberale der Staat sich aus familiären Beziehungen heraushalten oder in diese zumindest neutral eingreifen sollte. Außerdem liegt bei Vernachlässigung und dergleichen die Beweislast immer beim Staat, nicht bei den Eltern.
Weiterführende Literatur
Becker, Gary. A Treatise on the Family. Chicago: University of Chicago Press, 1981.
Evers, Williamson. “The Law of Omissions and Neglect of Children.” Journal of Libertarian Studies 2 no. 1 (1978): 1–10.
Horwitz, Steven. “The Functions of the Family in the Great Society.” Cambridge Journal of Economics 29 no. 5 (September 2005): 669–684.
Long, Roderick. “Beyond Patriarchy: A Libertarian Model of the Family.” Formulations 4 no. 3 (Spring 1997). Available from http://libertariannation.org/a/f43l2.html.
McElroy, Wendy, ed. Freedom, Feminism, and the State. 2nd ed. New York: Holmes and Meier, 1991.
Peden, Joseph R., and Fred R. Glahe, eds. The American Family and the State. San Francisco: Pacific Research Institute for Public Policy, 1986.