Erweiterte Intelligenz

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Von Michael von Prollius

„Eines Tages werden Maschinen denken,
aber sie werden niemals Fantasie haben.“

– Theodor Heuss

Der erste deutsche Bundespräsident bringt es mit seiner Feststellung noch heute auf den Punkt: Maschinen werden nur einen Teil der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns erreichen. Über das „niemals“ lässt sich streiten. Zugleich übertreffen sie bereits jetzt die menschliche Denkfähigkeit in wenigen Bereichen. Indes ist heute und in absehbarer Zukunft die Hürde der kreativen Fähigkeit – eine bildhafte Innenwelt mit Ideen zu erzeugen, nach denen es zu streben lohnt – für Maschinen unüberwindbar. Und das liegt vor allem am Menschen. Denn der ist nicht in der Lage seine Intelligenz hinreichend zu erfassen und auf Maschinen zu übertragen.

Eine einfache Definition von Intelligenz fasst diese als Fähigkeit zur Anpassung an neue Situationen und zur Lösung von Problemen auf (William Stern, 1912). Wir verwenden diese der Einfachheit und Klarheit halber zumal es auch nach Jahrzehnten internationaler wissenschaftlicher Bemühungen keine konsentierte Alternative gibt.

Vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, Intelligenz zu erfassen und zu übertragen, ist der Begriff Künstliche Intelligenz (KI), englisch Artificial Intelligence (AI), geeignet in die Irre zu führen. Erweiterte Intelligenz (augmented intelligence) wäre eine Alternative, die eine partielle Übertragung des ungemein vielfältigen Begriffs Intelligenz auf vom Menschen hergestellte Maschinen ermöglicht, darunter Computer, Roboter, insgesamt vor allem Software – letztlich in Form eines Algorithmus, also einer eindeutigen Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems in einzelnen Schritten.

Begriff KI

Mit Künstlicher Intelligenz (KI) werden Versuche bezeichnet, die einzelne Entscheidungsstrukturen des Menschen mit dem Ziel nachbilden, letztlich eine Software relativ eigenständig spezifische Aufgaben bearbeiten zu lassen. Mustererkennung spielt dabei eine wesentliche Rolle – von der Bilderkennung  bis zum automatischen Nachbestellen beim Unterschreiten einer Mindestmenge. Das als intelligent bezeichnete Arbeiten basiert auf Algorithmen, die in ihren Handlungsschritten weitgehend determiniert sind. Zum Teil soll die Software aus ihrer Tätigkeit selbstständig lernen können, d.h. ihre Tätigkeit auf der Basis statistischer Modelle verbessern oder erweitern, und zwar durch das Erkennen von Mustern und Gesetzmäßigkeiten (Maschinelles Lernen/machine learning). Beispiele sind Kreditkartenbetrug, Aktienmarktanalysen und Texterkennung.

Der menschliche Intelligenzbegriff lässt sich in viele Komponenten auffächern, darunter sprachliche, logische, mathematische, räumliche, körperliche, emotionale und soziale Intelligenz. Das deutet zugleich die Übertragungshindernisse auf Maschinen an.

Hindernisse

Das Streben nach menschenähnlichen Maschinen oder Robotern ist gleichermaßen alt wie ambitioniert und für die absehbare Zeit nahezu ausgeschossen. Das gilt zumindest für ihre Intelligenz, wenn sie hinsichtlich eines Menschen gleichwertig denken und handeln können sollen (starke KI). Die Hindernisse sind vielfältig. Erstens ist nicht klar genug, was Intelligenz ist, welche (philosophische) Grundlage Intelligenz besitzt und wie sie funktioniert. Zweitens gibt es eine Fülle unterschiedlicher Komponenten von Intelligenz, die mitunter miteinander verbunden sind (s.o.). Drittens ist bislang keine Reproduktion von Fähigkeiten erkennbar, die evolutionäre Wurzen haben, darunter ein semantisches Verständnis und die einzigartige Fähigkeit des Menschen, kreativ-schöpferisch zu handeln, geleitet von Fantasie. Selbst in dem punktuell relativ gut entwickelten Feld zuverlässiger kognitiver Leistungen liegen insgesamt betrachtet Welten zwischen Mensch und Maschine. Wir wissen nach wie vor zu wenig über unsere kognitive Architektur im Verbund von Vernunft und Emotionen. Allerdings zeigt dieser Bereich auch, dass Maschinen Vorteile gegenüber Menschen besitzen, vor allem bei der Bewältigung von Massendaten und komplexen, auf vielen Faktoren beruhenden Aufgaben. Ein Beispiel ist das schnelle Sichten von tausenden Röntgenbildern zur Erkennung von Lungenkrebs, ein anderes die Simulation von uns nicht bekannten kontrafaktischen, zukünftigen Zuständen. Die Schwierigkeiten einer zutreffenden Modellbildung mit korrekten Kausalbeziehungen werden allerdings deutlich, wenn man die Klimaforschung betrachtet. Deren Prognosen haben sich bisher als Massengrab falscher Vorhersagen und Rückblicke erwiesen.

Fortschritte

Bei klar abgesteckten Aufgaben, die durchaus komplex sein können, übertrifft die Fähigkeit von Maschinen nach langer Forschungsarbeit immer wieder die der Menschen wie drei einfache Beispiele illustrieren:

  • Im Schach hat der Computer Deep Blue von IBM 1997 den Weltmeister Garri Kasparow in sechs Partien geschlagen.
  • Das Computerprogramm Watson von IBM gewann 2011 im Quiz Jeopardy! Gegen zwei Rekordspieler.
  • Das Computerprogramm AlphaGo von Google DeepMind besiegte 2015 den weltbesten Spieler Lee Sedol im strategischen Spiel Go, einem variantenreicheren Spiel als Schach.

Bei aller Komplexität handelt es sich jedoch um vergleichsweise überschaubare Probleme mit festen Regeln und Spielzügen sowie einer überschaubaren Zahl von Akteuren auf einer zumeist begrenzten Aktionsfläche.

In Unternehmen werden unter den Begriff Industrie 4.0 viele KI basierte Anwendungen eingesetzt, die landläufig wenig bekannt sind und wenig spektakulär anmuten. Flexiblere Produktion, höhere Produktivität und neue Geschäftsmodelle sind das Ziel, Automatisierung und Digitalisierung die Wege dorthin. Stabileres und unterbrechungsfreies Arbeiten von Anlagen gehört dazu. Die Sammlung und Auswertung von Daten für die Steuerung und Verbesserung im Informationsverbund ist ein zentraler Baustein – zuweilen von der Herstellung über die Logistik bis zum Kunden oder in Form integrierter, digitalisierter Wertschöpfungsketten. Siemens bietet dafür etwa das Betriebssystem MindSphere an. Lernende Bildverarbeitung von Bosch ermöglicht es, Ausschussware automatisch zu erkennen und auszusortieren. Ein anderes Beispiel: Am Klang einer Anlage kann eine Software erkennen, ob diese rund läuft, in einem akustischen Spektrum, das dem Menschen nicht zugänglich ist, und kann rechtzeitig Wartungstechniker informieren. Schließlich werden lernende Roboter befähigt, selbst beste Lösungswege zu finden, und sie können zugleich ihr Wissen an alle anderen Roboter des Verbunds weitergeben.

Überdurchschnittliches KI-Potenzial wird in Deutschland laut einer Studie von PWC den Bereichen Handel und Konsumgüter, Hotels und Restaurants, Bildung, Gesundheit und öffentlicher Sektor zugemessen.

Historische Stationen

Als KI-Gründungsveranstaltung gilt im akademischen Sinne die Dartmouth Conference im Sommer 1956 in New Hampshire. Der sechswöchige Workshop trug den Titel „Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence“. Wichtige Teilnehmer waren der Logiker und Informatiker John McCarthy und der Experte für neuronale Netze Marvin Minsky.

Bereits 1950 hatte der britische Logiker, Mathematiker und Kryptoanalytiker Alan Turing einen später nach ihm benannten Test konzipiert, mit dem man feststellen kann, ob ein Computer über ein dem Menschen gleichwertiges Denkvermögen besitzt.

Erwähnt seien statt vieler anderer auch der Nobelpreisträger von 1978 Herbert A. Simon, der Denken als Informationsvorgang und diesen wiederum als Rechenvorgang beschrieb, ferner der Philosoph Hubert Dreyfus und dessen Buch „Grenzen künstlicher Intelligenz“ von 1972, in dem er die Annahmen kritisiert, das Gehirn und die Hardware sowie der Verstand und die Software ließen sich gleichsetzen sowie schließlich Karl Popper und dessen Hinweis auf die fehlende Definition, Übertrag- und Messbarkeit von Intelligenz.

Als ein moderner Gründervater von KI wird der herausragende Informatiker und Philosoph Judea Pearl angesehen. In seinem Buch „The Book of Why“ zeigt er eine Kausalitätsrevolution der letzten Jahrzehnte auf mit noch unabsehbaren Folgen für die Entwicklung von KI.

KI ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet. Informatik und Mathematik, Logik und Philosophie, Psychologie und Neurologie sowie Linguistik gehören zu den Disziplinen, die bei der Erforschung eine wichtige Rolle spielen.

Nutzen und Anwendung

KI kommt in vielen Bereichen zum Einsatz und unterstützt den Menschen, indem sie Arbeit erledigt, zu der der Mensch gar nicht oder mit weitaus größerem Zeitaufwand befähigt ist (s.o.). In der Regel handelt es sich um KI gestützte Werkzeuge und Methoden. KI kann bei der Erkennung von Bildern und Handschriften, Gesichtern und Personen, Fingerabdrücken und der Iris helfen, zudem industrielle Qualitätskontrollen optimieren und dabei auch Wahrscheinlichkeiten für Übereinstimmungen angeben.

Weithin bekannt sind Suchmaschinen und maschinelle Übersetzungen – beide etwa von Google, ferner die Texterkennung und Textgenerierung, bei der Algorithmen eigenständig z.B. kurze Sportnachrichten zum Ausgang und Verlauf des Spiels sowie zur Historie der Team-Aufeinandertreffen erstellen.

Etabliert ist zudem Data Mining, also das Gewinnen von Informationen aus schwach strukturierten Texten. Bei Massendaten spricht man von Big Data. Weit fortgeschritten und verbreitet ist die Analyse und Prognose von Aktienkursentwicklung, die nicht zuletzt auf der automatisierten Auswertung von Nachrichten basiert und zum automatisierten Kauf bzw. Verkauf von Wertpapieren führt – mit allen Problematiken der Fehlinformation und Fehlinterpretation. Computerspiele kommen kaum ohne KI aus. Selbstverständlich benötigen autonome Fahrzeuge KI, autonome Waffensysteme auch. KI wird zunehmend im Marketing eingesetzt, nicht nur für Werbemails, sondern auch beim Identifizieren von Verhaltensmustern der Konsumenten und als Sprachassistenten.

Stets gilt: nicht die Maschine ersetzt die kognitiven, semantischen, kreativen Fähigkeiten des Menschen, sondern unterstützt ihn und nimmt ihm Arbeit ab, auch beim Minensuchen und industriellen Schweißen. Die Maschine kann zunächst nur das leisten, was ihr der Mensch als Input zur Verfügung stellt. Maschinelles Lernen geht ein Stück darüber hinaus. Gleichwohl gilt Judea Pearls Diktum: „You are smarter than your data.“ Daten sind dumm. Sie können uns nichts sagen. Ohne den Menschen funktioniert die KI-Welt nicht.

Perspektive

KI ist vor allem eine Chance. KI verbessert unser Leben. Für guten Gebrauch und Missbrauch ist der Mensch verantwortlich. Die in der Öffentlichkeit geschürten Erwartungen oder Befürchtungen speisen sich aus Utopien und Dystopien, die zurück reichen bis zu Fritz Langs Metropolis, dem Computer HAL in 2001: Odyssee im Weltraum sowie jüngst Minority Report und I, Robot. Die Realität sieht indes anders aus und setzt Entwicklungen aus unvermuteten Richtungen Grenzen. Beim autonomen Fahren spielt beispielsweise das Recht eine entscheidende Rolle: Kann und darf ein Kind alleine mit einem selbst fahrenden Vehikel unterwegs sein, etwa zur Schule? Kann es den Kurs ändern, um stattdessen ins Schwimmbad zu fahren? Was passiert bei einem Unfall?

KI ist und bleibt eine Chance, weil sie sich in die Jahrhunderte währenden Bemühungen zur Verbesserung unseres Lebens einreiht. Von der Suche und Verknüpfung von Informationen über die Steuerung von elektrischen Geräten und der Heizung in einem Haus bis zur Produktivitätssteigerung in Industrie- und Dienstleistungsbetrieben reicht bereits jetzt die Kette, die zu besseren Produkten führt. Dafür lohnen sich Weiterbildung und Höherqualifizierung. Für KI gilt Amaras Law: Wir tendieren dazu, die kurzfristigen Effekte technologischer Neuerung erheblich zu überschätzen und die langfristigen Folgen drastisch zu unterschätzen.

Michael von Prollius

Dr. Michael von Prollius ist Ökonom. Er hat Betriebswirtschaftslehre und Geschichte in Bayreuth und Berlin studiert und hat an der FU Berlin in Geschichte promoviert.