Dahrendorf, Ralf

Bundesarchiv, B 145 Bild-F031122-0017 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0

Von Maximilian Diemer

Der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009) hatte sich die Freiheit zum Lebensthema erwählt. Als liberaler Intellektueller, Publizist, Politiker und Wissenschafts-Organisator in Deutschland und Großbritannien war er getragen von der Überzeugung, „dass wir die menschlichen Dinge mit immer neuen Versuchen – und Irrtümern voranbringen können. Opportunity und Diversity, Chancen für alle in der bunten Vielfalt des Daseins: So etwas schwebt mir vor.“[1]

Biographie

Ralf Gustav Dahrendorf wurde 1929 in Hamburg geboren als Sohn des sozialdemokratischen Bürgerschafts- und Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf. Nachdem sein Vater 1944 aufgrund seiner Verbindung mit Kreisen des 20. Juli zu Zuchthaushaft verurteilt worden war, wurde auch der Sohn aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Widerstandsgruppe „Freiheitsverband Höherer Schüler Deutschlands“ nur einige Monate später verhaftet und mit 15 Jahren für vier Wochen in das Gestapo-Arbeitserziehungslager Schwetig an der Oder verbracht. Während dieser Zeit geschah es, “that an almost claustrophobic yearning for freedom was bred”[2]. Nach dem Krieg studierte Dahrendorf in Hamburg Philosophie und Klassische Philologie, promovierte dort mit 23 Jahren, ging anschließend als Post-Graduate an die LSE und habilitierte sich mit 28 Jahren an der Universität Saarbrücken.

Ein Jahr später, im Jahr 1958, erhielt er seinen ersten Ruf nach Hamburg. Es folgten Lehrtätigkeiten an den Universitäten Tübingen (ab 1960) und Konstanz (ab 1966). Er gehört zur Gruppe der Gründerväter der Universität Konstanz. Während den 60ern trat er als vehementer Verfechter, geradezu Begründer der Bildungsexpansion ins Licht der Öffentlichkeit. Neben „Bildung ist Bürgerrecht“ wurde „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ (beide 1965) zu einem „Grundbuch der Liberalisierung“[3] der bundesdeutschen Gesellschaft. 1967 trat Ralf Dahrendorf in die FDP ein, errang 1968 erst ein Landtagsmandat und wurde 1969 auch in den Bundestag gewählt. Im ersten Kabinett Brandt fungierte Dahrendorf als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt bis er 1970 zunächst EG-Kommissar für Außenhandel und äußere Beziehungen wurde und von 1973 bis 1974 Kommissar für Bildung, Forschung und Wissenschaft. Nachdem herausgekommen war, dass er 1971 unter dem Pseudonym Wieland Europa zwei äußerst kritische Artikel zur Lage der EG in der ZEIT veröffentlicht hatte, wurde seine Position als Kommissar allerdings erheblich geschwächt. Im Jahr 1974 berief die London School of Economics Dahrendorf als ihren Direktor. Diese Aufgabe versah er für zehn Jahre. Von 1987 bis 1997 wirkte er, der seinen Lebensmittelpunkt mittlerweile nach Großbritannien verlegt hatte, an der Universität Oxford. Als „Life Peer“ zog Ralf Lord Dahrendorf 1993 ins britische House of Lords ein. 2005 siedelte er wieder nach Deutschland um, wo er am Berliner Wissenschaftszentrum bis zu seinem Tod am 17. Juni 2009 eine Forschungsprofessur innehatte.

Dahrendorf und die soziologische Theorie

„An Karl Marx rieb [Ralf Dahrendorf] sich, an Max Weber orientierte er sich und in der Abgrenzung zu Talcott Parsons fand er seinen Platz in der Soziologie des 20. Jahrhunderts.“[4] Soziologie war für Dahrendorf vor allem eine Erfahrungswissenschaft. Theorien sollten sie zwar leiten, aber nicht zu „totalen Erklärungsversuchen“ verabsolutiert werden. Vom Soziologen forderte Dahrendorf stete Selbstkritik. Er müsse offenbaren, welche Werte die eigene Forschung geleitet hätten. Denn als Sozialwissenschaftler trage er eine besondere Verantwortung: „Was [der Soziologe] tut, was er sagt, was er schreibt wirkt in besonderem Maße in die Gesellschaft hinein.“[5]

Bei seiner Analyse der Gesellschaft stand für Dahrendorf der Konflikt im Mittelpunkt. Denn „im Konflikt liegt […] der schöpferische Kern aller Gesellschaft und die Chance zur Freiheit – doch zugleich auch die Herausforderung zur rationalen Bewältigung und Kontrolle der gesellschaftlichen Dinge.“[6] Konflikte beruhten auf Ungleichheit, die „eine produktive Kraft des gesellschaftlichen Prozesses ist, weil sie zur Initiative und damit zur Veränderung anregt.“[7] Damit Konflikt aber nicht in Gewalt umschlage, bedürfe es Institutionen, die das Potential zum Wandel in geordnete Bahnen lenkten. Repräsentative Demokratie und Marktwirtschaft erwiesen sich dafür am geeignetsten.

Neben der abstrakten Konflikttheorie entwarf Dahrendorf auch ein eigenes mikrosoziologisches Konzept, den sog. „homo sociologicus“. Unter diesem verstand er „den Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. [Er] ist seine sozialen Rollen“. [8] Die Gesellschaft dagegen war für Dahrendorf eine „ärgerlichen Tatsache“[9], da sie zwar für Verlässlichkeit sorge, dies aber nur durch Regulation des Individuums ermögliche. Jede soziale Rolle, die ein Mensch einnimmt, sei mit gesellschaftlichen Erwartungen verbunden. Würden diese nicht erfüllt, komme es zu Konflikten.

Moderne Gesellschaften und Individuen sind also in einem Dilemma gefangen: Gewinnt der Einzelne mehr Freiheit in seiner Lebensgestaltung, verliert die Gesellschaft Stabilität. Legt die Gesellschaft Wert auf Stabilität, verliert der Einzelne an Raum für seine Entfaltung.

Dahrendorf und der Liberalismus

Mit einem gewissen Recht wird Dahrendorf meist im Umkreis des Sozialliberalismus verortet. Aber eindeutig war er bei seiner Position nie. Für Dahrendorf war „Liberalismus […] notwendig eine Philosophie des Wandels“[10]. Gerade in seinem Frühwerk betonte er die aktive Aufgabe des Liberalen und seine Orientierung auf das Individuum sehr stark. Sein Ziel bestehe darin, „die Vielfalt der Lebenschancen des Einzelnen zu vergrößern. […] Liberalismus will Unterschied, denn Unterschied heißt Freiheit.“[11] Später jedoch nahm sein bisher sehr progressiver Liberalismus eine institutionalistische Wende. Er mahnte, dass Institutionen, die eine „Verfassung der Freiheit“ gewährleisten können, also Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Demokratie und Bürgergesellschaft, nicht zerstört werden dürften. Ausufernde Bürokratie, ein falsch verstandener Egalitarismus und die Umwandlung von wirtschaftlicher in politische Macht bildeten die drei größten Gefahren. Dennoch erteilte er dem „passiven“ Liberalismus, der die Verfassung der Freiheit und die schon bestehenden Lebenschancen nur bewahren wolle, eine Absage. Sein Grundtenor blieb aktiver, politischer: „Je mehr Menschen mehr Lebenschancen haben, desto liberaler ist eine Gesellschaft.“[12]

Dahrendorf und die Freiheit der Lebenschancen

Um Dahrendorfs Freiheitsidee zu verstehen, ist der Begriff „Lebenschancen“ zentral. Sie böten „Gelegenheit für individuelles Handeln, die sich aus der Wechselbeziehung von Optionen und Ligaturen ergeben.“[13] Mit Optionen meint er Wahlmöglichkeiten für ergebnisoffenes Handeln des Menschen; und unter Ligaturen versteht er notwendige soziale und emotionale Bindungen, die Rückhalt und Orientierung bieten. Letztere seien vorgegeben, über erstere hingegen habe der Mensch Verfügungsgewalt. Es bedürfe grundsätzlich beider, denn „Ligaturen ohne Optionen bedeuten Unterdrückung, während Optionen ohne Bindungen sinnlos sind.“[14]

Das Ausmaß von verfügbaren Lebenschancen hänge freilich von den „Anrechten“ ab, die in einer Gesellschaft zur Verfügung stehen. Dazu zählten liberale Grundrechte, wie Redefreiheit und Rechtsgleichheit, und politische Partizipationsrechte, wie das allgemeine Wahlrecht, ebenso sehr wie „materielle“ Bürgerrechte, zum Beispiel auf Bildung oder eine Grundsicherung. Chancengleichheit bei den Anrechten dient der Freiheit der Ergebnisse. Für Dahrendorf wird die Freiheit des Einzelnen in diesem Zusammenhang eine moralische und politische Forderung.[15] Denn die „Aufgabe der Freiheit“ sei es nicht nur, Zwänge zu verringern indem Konflikte in geregelte Bahnen gelenkt werden, sondern auch, mehr Lebenschancen für mehr Menschen zu entwickeln.

Fazit

Neben den Erfolgen der Bildungsexpansion und der „Fundamentalliberalisierung“[16] der Bundesrepublik, an denen Dahrendorf Anteil hatte, gibt es „Homo Sociologicus“ mittlerweile in der 17. Auflage und der Begriff der „Lebenschancen“ hat es in den soziologischen Kanon geschafft. Die positive Einschätzung des geregelten Konflikts, der den Fortschritt „für die Welt der Freiheit“[17] treibt, ist eine der wichtigsten Hinterlassenschaften Dahrendorfs. An ihr könnte sich die moderne Bürgergesellschaft, die “von Höflichkeit, Toleranz und Gewaltlosigkeit geprägt ist, aber auch von Bürgerstolz und Zivilcourage“[18], orientieren. Moderne Gesellschaften müssen so freiheitlich wie möglich sein. Denn nur, wenn die Lebenschancen aller und damit die Freiheit stetig voranschreiten, können die Herausforderungen der Zukunft gemeistert werden.

Literatur

Dahrendorf, Ralf, Versuchungen der Unfreiheit. Intellektuelle in Zeiten der Prüfung, München 32008.
Ders., Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Wiesbaden 162006.
Ders., Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 32003.
Ders., Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit, München 1994.
Ders., Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1979.
Kühne, Olaf, Zur Aktualität von Ralf Dahrendorf. Einführung in sein Werk, Wiesbaden 2017.
Meifort, Franziska, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017.

[1] Dahrendorf, Ralf, Die menschlichen Dinge voranbringen. Dankesrede zur Verleihung des Schader-Preises 2009 in Darmstadt, in: Thomas Hauser, Christian Hodeige (Hg.), Der Zeitungsmensch. Auf den Spuren von Ralf Dahrendorf in Südbaden, Freiburg i. B., 2010, S. 283ff., S. 284.

[2] Ders., BBC Reith Lectures, 13. November 1974, cf. https://www.bbc.co.uk/sounds/play/p00h5dvn

[3] cf. Hebert, Ulrich, Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002.

[4] Strasser, Hermann, Nollmann, Gerd, Ralf Dahrendorf. Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik. In: Soziologie heute 3 (2010), S. 32–35, S. 34.

[5] Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 47.

[6] Ders., S. 235.

[7] Ders., Die Chancen der Krise, Stuttgart 1983, S. 133.

[8] Ders., Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1968, S. 133, Hervorh. im Orig.

[9] Ebd., S. 50.

[10] Ders., Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1979, S. 61.

[11] Ders., Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstklassengesellschaft, München 1972, S. 222.

[12] Ders., Chancen der Krise, S. 37.

[13] Ebd, S.55.

[14] Ders., Lebenschancen, S. 51f.

[15] vgl. ebd., S. 61.

[16] vgl. Habermas, Jürgen In: Frankfurter Rundschau vom 11. März.1988.

[17] Dahrendorf,, Konflikt und Freiheit, S. 315.

[18] Ders., Der moderne soziale Konflikt, S. 70.

Maximilian Diemer

Maximilian Diemer studiert Geschichte, Politikwissenschaft und Digital Humanities an der LMU München.